Bundesverfassungsgericht (1. Senat)
Beschluß vom 30. Mai 1972
- 1 BvL 21/69 und 18/71
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 (weitere Fundstellen: BVerfGE 33, 199 ff.)

 

Leitsatz:

 

Zur Zulässigkeit einer erneuten Vorlage nach Artikel 100 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes

 

 

 

Aus den Gründen:

 

B.

1.

Die Vorlagen sind unzulässig

 

I.

2.

1. Die vorlegenden Gerichte sind nach § 31 Abs. 1 BVerfGG an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorn 25. Juli 1960 (BVerfGE 11, 283) gebunden, wonach § 76 AVG mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dieser Entscheidung kommt gemäß § 31 Abs. 2 BVerfGG Gesetzeskraft und ferner Rechtskraftwirkung zu (vgl. BVerfGE 4, 31 [38]; 5, 34 [37 f.]; 20, 56 [86 ff.]). Die darauf beruhende Bindung erfaßt anerkanntermaßen nur den Tenor der Entscheidung (vgl. im einzelnen BVerfGE 20, 56 [86]). Da die vorlegenden Gerichte vom Bundesverfassungsgericht einen Spruch begehren, der im Gegensatz zur früheren Entscheidung über § 76 AVG steht, hätten sie Gründe dafür darlegen müssen, daß die Rechtskraft des Tenors der früheren Entscheidung nicht die erneute Sachprüfung hindere, ob § 76 AVG auch jetzt noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

3.

2. Die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung bezieht sich stets auf den Zeitpunkt, in dem die Entscheidung ergeht. Sie erfaßt also nicht solche Veränderungen, die erst später eintreten. Denn jedes gerichtliche Erkenntnis geht von den zu seiner Zeit bestehenden Verhältnissen aus. Deshalb hindert die Rechtskraft auch nicht die Berufung auf neue Tatsachen, die erst nach der früheren Entscheidung entstanden sind.

4.

Dieser allgemeine Grundsatz des Prozeßrechts findet auch in verschiedenen Vorschriften des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes eine Stütze (vgl. §§ 41, 47, 96 BVerfGG). Zwar fehlt im Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine entsprechende Vorschrift über die Zulässigkeit einer erneuten Vorlage. Es ist aber zu berücksichtigen, daß das Bundesverfassungsgerichtsgesetz keine umfassende Verfahrensregelung enthält. Für die Ausgestaltung des Verfahrensrechts können das Verwaltungs- und das Zivilprozeßrecht herangezogen werden. Für diese Prozeßarten ist es aber allgemein anerkannt, daß eine Berufung auf eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nicht durch die Rechtskraft gehindert wird. Das muß dann auch für eine erneute Vorlage gelten, die auf tatsächliche Veränderungen, einschließlich der Tatsache von Gesetzesänderungen, gestützt wird. Dabei kann in den vorliegenden Fällen die Frage unentschieden bleiben, ob außer neuen Tatsachen auch ein Wandel der allgemeinen Rechtsauffassung die erneute Prüfung einer bereits rechtskräftig entschiedenen Vorlagefrage ermöglicht.

5.

Eine erneute Vorlage ist danach jedenfalls dann zulässig, wenn sie von der Begründung der früheren Entscheidung ausgeht und neue Tatsachen dartut, die geeignet sind, eine von der früheren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abweichende Entscheidung zu ermöglichen.

 

II.

6.

Diesen Erfordernissen genügen die beiden Vorlagebeschlüsse nicht.

7.

Das Amtsgericht Deggendorf erwähnt in seinem Vorlagebeschluß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 1960 (BVerfGE 11, 283) überhaupt nicht. Das Oberlandesgericht Düsseldorf geht zwar auf diese Entscheidung ein; aber auch seine Ausführungen lassen keine rechtserheblichen neuen Tatsachen gegenüber den tragenden Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts erkennen. Der Vorlagebeschluß wendet sich im wesentlichen den Vergleichspaaren Angestelltenversicherungsrente einerseits und Beamtenruhegehalt sowie privatrechtliche Versicherungsrente andererseits zu. Diese Vergleichspaare hat das Bundesverfassungsgericht aber bereits seiner Entscheidung BVerfGE 11, 283 zugrunde gelegt und einen Verfassungsverstoß verneint. Das Oberlandesgericht hat auch nicht dargetan, daß die vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene Verschiedenheit in der rechtlichen Struktur der genanten Versorgungsbezüge sich inzwischen geändert habe.

8.

Wenn im Vorlagebeschluß auf eine fortlaufende Erhöhung der Sozialversicherungsrenten abgestellt wird und daraus geschlossen werden soll, daß nunmehr ein besonderes soziales Schutzbedürfnis der Rentner der Angestelltenversicherung im Vergleich zu den Ruhestandsbeamten nicht mehr gegeben sei, so ist darauf hinzuweisen, daß auch die Ruhestandsbezüge der Beamten fortlaufend erhöht wurden. Entscheidend wäre nur, ob sich im Verhältnis der beiden Bezugsarten etwas geändert hat; dazu aber finden sich keine Ausführungen im Vorlagebeschluß.

9.

Soweit das Oberlandesgericht auf die Erhöhung der Pflichtversicherungsgrenze in der Angestelltenversicherung verweist, mag für eine Gruppe von Rentnern das Schutzbedürfnis geringer geworden oder gar ganz entfallen sein; das Gericht hat aber nicht dargetan, daß es sich dabei um eine so große Anzahl von Rentnern handelt, daß nunmehr von Verfassungs wegen eine andere Beurteilung der Norm geboten wäre. Das gleiche gilt für den Hinweis auf die Anhebung der Pfändungsfreigrenze.

10.

Ob die von dem vorlegenden Gericht vorgebrachten Umstände den Gesetzgeber zu einer Reform veranlassen könnten, obliegt - wie schon in BVerfGE 11, 283 [293] hervorgehoben - seiner Entscheidung. Sie sind aber nicht geeignet, gegenüber der Rechtskraft der früheren Entscheidung eine erneute verfassungsrechtliche Prüfung zu ermöglichen.

13.

Eine entsprechende Anwendung des § 46 der RAO BritZ oder der ihr entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen der übrigen Länder, die eine Beschränkung in der Auswahl des Armenanwalts vorsehen, scheidet daher aus. Vielmehr kann die Auswahl aus dem Kreise sämtlicher bei deutschen Gerichten zugelassener Rechtsanwälte vorgenommen werden.

14.

b) Im vorliegenden Falle ist entsprechend dem Antrage der Beschwerdeführerin Rechtsanwalt Dr. W. beigeordnet worden. Dabei ist erwogen worden, daß die Beschwerdeführerin angesichts der zu entscheidenden schwierigen Tat- und Rechtsfrage und angesichts ihres Bildungsgrades nicht in der Lage wäre, einen Rechtsanwalt am Sitz des Bundesverfassungsgerichts schriftlich hinreichend zu unterrichten, und daß es, wenn nicht besondere Gründe vorliegen, angezeigt ist, dem Antragsteller den Anwalt seines Vertrauens beizuordnen.

15.

5. Es sei in diesem Zusammenhang noch darauf hingewiesen, daß der Anwalt Ansprüche nach dem Gesetz betr. Erstattung von Rechtsanwaltsgebühren in Armensachen geltend machen kann. Denn wenn dieses Gesetz sich auch nur auf bestimmt bezeichnete Rechtsstreitigkeiten bezieht, so hängt es doch so unmittelbar mit den Armenrechtsvorschriften der Zivilprozeßordnung zusammen, daß es auch in solchen Fällen herangezogen werden muß, in denen die §§ 114 ff. ZPO entsprechende Anwendung finden und keine besonderen Vorschriften für die Erstattung von Armenanwaltsgebühren bestehen (vgl. OGH BZ in NJW 1950, 426; ferner für das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit: KG in JW 1933, 1262 und 1936, 1793; ferner Baumbach-Lauterbach, Kostengesetze, 10. Aufl., S. 646).