Oberlandesgericht München
Beschluss des 2. Strafsenat vom 14.07.2006
- 2 Ws 679/06, 2 Ws 684/06
-

 (weitere Fundstellen: NJW 2006, 3079 f.)

 

 

Aus den Gründen:

 

I.

1.

Gegen den Angeklagten B. und zwei Mitangeklagte findet seit dem 11.07.2006 die Hauptverhandlung vor der 1. Strafkammer des Landgerichts München II statt. Als am ersten Verhandlungstag Rechtsanwalt Pi. als Verteidiger des Angeklagten B. mit weißem T-Shirt unter der offenen Robe erschien und auch auf Abmahnung durch den Vorsitzenden und Hinweis auf die Folgen nicht bereit war, mit Hemd und Krawatte aufzutreten, wies ihn der Vorsitzende für diesen Termin als Verteidiger des Angeklagten B. zurück. Auf Antrag des Rechtsanwalts bestätigte die Kammer mit Beschluss vom selben Tag die Verfügung.

2.

Im Anschluss hieran wurde mit Verfügung des Vorsitzenden Rechtsanwalt Pa. als Pflichtverteidiger neben dem Wahlverteidiger Rechtsanwalt Pi. bestellt.

3.

An den folgenden Sitzungstagen am 13.07. und 14.07.2006 erschien Rechtsanwalt Pi. jeweils wieder in der beanstandeten Kleidung und wurde, da er weiterhin zu einer Änderung nicht bereit war, jeweils als Verteidiger zurückgewiesen.

4.

Gegen die Zurückweisungen vom 11.07., 13.07. und 14.07.2006 und gegen die Bestellung des Pflichtverteidigers am 11.07.2006 legte Rechtsanwalt Pi. jeweils Beschwerden ein, denen nicht abgeholfen wurde.

 

II.

5.

1. Die Rechtsmittel sind gemäß §§ 304, 306 StPO zulässig.

6.

a) Der Anfechtung der Zurückweisung des Verteidigers steht § 305 Satz 1 StPO nicht entgegen. Der dort vorgesehene Ausschluss der Beschwerde betrifft nur Beschlüsse und Verfügungen, die im inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung stehen, lediglich der Urteilsvorbereitung dienen und keine weiteren Verfahrenswirkungen äußern (OLG Karlsruhe, NJW 1977, 309 m. w. N.). Dieses trifft auf die Zurückweisung des Verteidigers nicht zu. Sie dient zwar insofern der Urteilsvorbereitung, als sie die äußere Verfahrensordnung zu sichern bestimmt war (vgl. unten S 4, letzter Absatz), erschöpfte ihre prozessualen Wirkungen jedoch nicht hierin. Sie entfaltete daneben vielmehr eine eigenständige prozessuale Bedeutung für das Mandatsverhältnis zwischen dem Verteidiger und dem Angeklagten und ist insoweit einer Anfechtung zugänglich.

7.

Auch § 181 GVG steht einer Anfechtung nicht entgegen. Nach der genannten Vorschrift sind sitzungspolizeiliche Maßnahmen des Vorsitzenden, soweit sie nicht der Festsetzung von Ordnungsmitteln nach §§ 178, 180
 GVG bestehen, grundsätzlich der Anfechtung entzogen (Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., Rn. 5 zu § 181 GVG m. w. N.). Damit würden die nach § 176 GVG ergangenen Ausschließungen des Verteidigers zwar grundsätzlich von dem Anfechtungsverbot miterfasst. Die oben bereits erwähnte, über die sitzungspolizeilichen Aspekte der Verfahrenssicherung hinausgehende Auswirkung dieser Maßnahmen für das Mandatsverhältnis führt hier aber - ausnahmsweise - zu einer Anfechtbarkeit nach §§ 304, 306 StPO (so im Ergebnis auch OLG Karlsruhe a. a. O.).

8.

b) Die gegen den Willen des Angeklagten erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers neben dem Wahlverteidiger kann mit der Beschwerde angefochten werden (Meyer-Goßner, Rn. 9 zu § 141 m. w. N.).

9.

2. Die Rechtsmittel haben in der Sache keinen Erfolg.

10.

a) Rechtsanwalt Pi. hat gegen die Verpflichtung, vor Gericht Amtstracht zu tragen, verstoßen und konnte deshalb nach § 176 GVG als Verteidiger zurückgewiesen werden (vgl. Meyer-Goßner, Rn. 11 zu § 176 GVG).

11.

Die Verpflichtung der Rechtsanwälte, vor Gericht Amtstracht zu tragen, ist nur in einzelnen Bundesländern gesetzlich geregelt. Fehlt, wie in Bayern, eine solche Regelung, ergibt sich die Verpflichtung aus einem seit der Reichsgesetzgebung vor mehr als 100 Jahren entwickelten bundeseinheitlichen Gewohnheitsrecht (vgl. BVerfG NJW 1970, 851 = BVerfGE 28, 21). Das bundeseinheitliche Gewohnheitsrecht findet in den bestehenden untergesetzlichen landesrechtlichen Regelungen seine inhaltliche Konkretisierung. In Bayern ist dies die Bekanntmachung über die Amtstracht der Rechtspflegerorgane vom 16.10.1956 in der Fassung der Änderung vom 26.04.1968. Sie entfaltet aufgrund ihrer Rechtsnatur als Verwaltungsvorschrift zwar keine unmittelbare Bindungswirkung gegenüber den Rechtsanwälten, zeitigt aber über das Gewohnheitsrecht mittelbare Rechtswirkungen. Sie besagt, dass die Amtstracht der Rechtsanwälte (wie auch der übrigen Rechtspflegerorgane) aus einer Robe in schwarzer Farbe besteht, zu der eine weiße Halsbinde zu tragen ist. Dass dazu ein (weißes) Hemd gehört, ergibt sich zwar nicht ausdrücklich aus dem Wortlaut, aber zweifelsfrei aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung.

12.

Die genannte Bestimmung ist auch nicht durch § 20 BO-RA überholt. Die Verpflichtung zum Tragen von Amtstracht hat für die Rechtsanwälte eine Doppelfunktion: Sie hat einerseits den Charakter einer Berufspflicht, dient andererseits aber auch der verfahrensrechtlichen Pflicht zur Aufrechterhaltung einer bestimmten äußeren Verhandlungsordnung (OLG Karlsruhe NJW 1977, 309, 311). Die erste Alternative wird durch § 20 BO-RA geregelt, die zweite durch das Gewohnheitsrecht in seiner Ausgestaltung durch die landesrechtliche Verwaltungsvorschrift (vgl. auch OLG Braunschweig NJW 1995, 2113, 2115). Soweit bestehen beide Regelungen unabhängig nebeneinander.

13.

Die gewohnheitsrechtliche Regelung ist auch nicht infolge eingetretener gesellschaftlicher Veränderungen gegenstandslos geworden. Das Gewohnheitsrecht ist als gewachsenes Recht äußeren Einwirkungen ausgesetzt und einer inhaltlichen Weiterentwicklung zugänglich. Es rechtfertigt seine Verbindlichkeit u.a. aus seiner Akzeptanz durch die Betroffenen und kann insoweit durch geänderte Verhaltensweisen und Wertvorstellungen beeinflusst werden. Eine nicht mehr allgemein als verbindlich akzeptierte Regelung kann seine gewohnheitsrechtliche Verbindlichkeit verlieren. Maßstab für die Bewertung eines möglichen Wandels ist der Kreis der durch die Regelung betroffenen Personen. Da das Gewohnheitsrecht, wie auf S. 4 (letzter Absatz) ausgeführt, nicht anwaltliches Standesrecht regelt, sondern Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrecht, kommt es auf die Erwartungen und Vorstellungen aller Verfahrensbeteiligten an, insbesondere auch der Gerichte, und nicht nur der Rechtsanwälte (vgl. OLG Braunschweig NJW 1995, 2113, 2114 f.). Auf die möglicherweise geänderten Wertvorstellungen anderer gesellschaftlicher Gruppen, wie beispielsweise des sogenannten "Business", kommt es entgegen der Auffassung des Verteidigers Rechtsanwalt Pi. insoweit nicht an.

14.

Nach dieser Maßgabe kann es keinem Zweifel unterliegen, dass das Tragen von Hemd und Krawatte vor Gericht weiterhin einem breiten Konsens begegnet. Eine differenzierte Entwicklung hat sich lediglich insoweit ergeben, als bei Rechtsanwälten (im Gegensatz zu Richtern und Staatsanwälten) inzwischen auch farbige Hemden und Krawatten in dezenter Ausführung als angemessen angesehen werden.

15.

Gegen diese Verpflichtung hat Rechtsanwalt Pi. verstoßen. Ein Auftritt mit T-Shirt vor einer Großen Strafkammer ist unter keinem Gesichtspunkt hinnehmbar. Die Verstöße waren auch schwerwiegend und rechtfertigten nach § 176 GVG die Verhängung der ausgesprochenen sitzungspolizeilichen Maßnahmen. Es handelte sich nicht um einmalige, durch sachliche Erwägungen begründete Verstöße, sondern um eine generelle und in provokativer Form verweigerte Erfüllung verfahrensrechtlicher Verhaltensnormen. Zu der vorgetragenen Begründung, er besitze keine Krawatte und könne eine solche auch nicht binden, versagt sich der Senat eine Erörterung. Die beklagten nachteiligen Folgen der Ausschließungen für den Mandanten hätte der Verteidiger durch normgerechtes Verhalten unschwer verhindern können.

16.

b) Die Bestellung eines Pflichtverteidigers durch Verfügung des Vorsitzenden vom 11.07.2006 begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Grundsätzlich gilt, dass dem Angeklagten nur aus wichtigem Grund ein Pflichtverteidiger neben dem Wahlverteidiger bestellt werden darf (vgl. OLG Zweibrücken NStZ 1988, 144, 145). Ein solcher Grund lag hier angesichts der Schwere der Verstöße und der zur Grundsatzfrage erhobenen Weigerung vor, die den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens ernsthaft in Frage stellten. Der Fall unterscheidet sich insoweit grundlegend von der oben zitierten Entscheidung des OLG Zweibrücken, die sich mit der Frage zu befassen hatte, ob Rechtsanwälte in den Sitzungen weiße Krawatten zu tragen haben, die nicht durch Pullover verdeckt sein dürfen (vgl. OLG Zweibrücken a. a. O.).

17.

3. Aus den dargelegten Gründen erweisen sich die Beschwerden als unbegründet.

18.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst.