Verwaltungsgericht München
Urteil vom 21.01.1999
- M 17 K 96.3548
-

 (weitere Fundstellen: NVwZ 2000, 461 f.)

 

 

Tatbestand:

1.

Im Rahmen seines Staatsbesuches in der Bundesrepublik Deutschland vom 11. bis 15. Juli 1995 hielt sich der chinesische Staatspräsident Jiang Zemin auch in der Landeshauptstadt M auf. Anläßlich seines Besuches meldete der Kläger zu 1) für den 15. Juli 1995 eine "Versammlung unter freiem Himmel" an, an der auch der Kläger zu 2) teilnahm. Mit Transparenten, Flugblättern und anderen üblichen Mitteln sollte im Bereich des nördlichen Marstallplatzes in der Zeit von 9.30 - 11.00 Uhr gegen die Haltung der chinesischen Staatsregierung insbesondere in Menschenrechtsfragen in Form einer Mahnwache demonstriert werden. Aus einer handschriftlichen Notiz des Kreisverwaltungsreferats der Landeshauptstadt M ergibt sich, daß die Mahnwache ursprünglich an der Ecke M straße/M platz durchgeführt werden sollte, nach Verhandlungen mit dem Kreisverwaltungsreferat der Standort jedoch einvernehmlich in den Bereich des nördlichen Marstallplatzes verlegt wurde. Die gleiche Versammlung meldete auch die München e.V. an; nach einem handschriftlichen Vermerk vom 10. Juli 1995 auf dieser Anmeldung sollten die Mitglieder des Klägers zu 1) lediglich als Versammlungsteilnehmer dieser Mahnwache beiwohnen.

2.

Im Moment der Einfahrt des Konvois mit dem chinesischen Staatspräsidenten von der Maximilianstraße her in den Marstallplatz fuhr ein bis dahin außer Sicht geparkter Bus des Polizeimusik-Korps unmittelbar vor den Stand der Mahnwache und unterbrach auf diese Weise den Sichtkontakt zwischen den ca. 50 Personen und dem gesamten Marstallplatz. Zugleich spielte das in den Marstallplatz vorrückende Musikkorps auf. Unmittelbar nach der Einfahrt des Konvois in den Apothekenhof der Residenz wurde der Bus wieder in seine vorherige Parkposition zurückgesteuert. Der gesamte Vorgang spielte sich innerhalb von drei Minuten ab.

3.

Mit Schriftsatz vom 12. Juli 1996, bei Gericht eingegangen am 15. Juli 1996, erhob der Bevollmächtigte Klage gegen die Landeshauptstadt München zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragte

festzustellen, daß folgende polizeiliche Maßnahmen am 15. Juli 1995 anläßlich des Besuchs des chinesischen Staatspräsidenten Jiang Zemin rechtswidrig waren:

a)Vorziehen eines großen Busses im Bereich des Marstallplatzes, mit dem der Blick zwischen dem Staatsgast und einer Mahnwache unterbunden wurde,

b)Vorziehen eines Musikkorps der Polizei vor den entsprechenden Bus und Intonieren eines Musikstückes, um Sprechchöre zu verhindern.

4.

Zur Begründung wurde insbesondere vorgetragen, daß diese Maßnahmen, die eine optische und akustische Abschirmung der Demonstranten zur Folge gehabt hätten, unverhältnismäßig und ungeeignet gewesen seien. Es sei unzulässig in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingegriffen worden; Anhaltspunkte für irgendwelche gewaltsamen Aktionen hätten nicht bestanden. Es sei lediglich darum gegangen, im Interesse der deutschen Wirtschaft die chinesischen Staatsgäste nicht durch Demonstranten zu verärgern. Es sei bekannt, daß der Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng im Jahre 1994 wegen einiger von ihm wahrgenommener Demonstrationen an den Rand eines Abbruchs gekommen sei. Das Feststellungsinteresse der Kläger an der Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahmen sei aufgrund der bestehenden Wiederholungsgefahr in vergleichbaren Fällen gegeben. Die Klagebefugnis des Klägers zu 1) ergebe sich aus seiner Eigenschaft als Mitveranstalter der Mahnwache. Der Kläger zu 2) habe an der Mahnwache als Mitglied von national" und als Staatsbürger teilgenommen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Klageschriftsatz Bezug genommen.

5.

Mit Schriftsatz vom 22. August 1996 beantragte die Landeshauptstadt München,

die Klage abzuweisen.

6.

Sie sei nicht passivlegitimiert, da eine mögliche Rechtsverletzung in versammlungsrechtlicher Hinsicht durch die Landeshauptstadt nicht geltend gemacht worden sei, die angefochtenen Maßnahmen vielmehr auf polizeilichen Aktionen beruhen würden.

7.

Auf gerichtlichen Hinweis hin, daß Träger der Polizei und damit richtiger Beklagter der Freistaat Bayern sei, äußerte sich der Klägerbevollmächtigte mit Schreiben vom 11. Februar 1997 dahingehend, daß die Klage nunmehr gegen den Freistaat Bayern gerichtet werde.

8.

Mit Schreiben vom 10. November 1997 weist der Klägervertreter darauf hin, daß eine vergleichbare polizeiliche Aktion, die im Landkreis B vor dem Schloß stattgefunden habe, Gegenstand einer Verhandlung beim Verwaltungsgericht Köln am 14. August 1997 gewesen sei. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung habe die Polizei ihr damaliges Verhalten ausdrücklich bedauert, so daß mangels Wiederholungsgefahr die Hauptsache für erledigt habe erklärt werden können. Dagegen beharre das Bayerische Staatsministerium des Innern in seiner Erklärung vom 7. September 1995 auf dem bisherigen Rechtsstandpunkt, so daß auch unter diesem Gesichtspunkt eine Wiederholungsgefahr gegeben sei.

9.

In der mündlichen Verhandlung vom 28. Mai 1998, zu der noch die Landeshauptstadt München als Beklagte geladen war, erklärten die Klägervertreter ausdrücklich die Klageänderung dahingehend, daß sich die Klage nunmehr gegen den Freistaat Bayern richte. Die als Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung beteiligte Landesanwaltschaft Bayern hielt die Klageänderung nicht für sachdienlich, da die Klage bereits mangels Feststellungsinteresses unzulässig sei. Die Landeshauptstadt München erklärte sich mit ihr einverstanden. Die Kammer wies darauf hin, daß sie von einer allgemeinen Feststellungsklage ausgehe, bei der Ausschlußfristen nicht bestünden.

10.

Im Schreiben vom 25. August 1998, mit dem die Klage nun an die Landesanwaltschaft Bayern - Außenstelle München - als Vertreterin des Freistaates erneut zugestellt wurde, bejahte die Kammer die Sachdienlichkeit der Klageänderung.

11.

Mit Schriftsatz vom 22. Oktober 1998 beantragte der Beklagte,

die Klage als unzulässig, zumindest jedoch als unbegründet abzuweisen.

12.

Es fehle bereits am Feststellungsinteresse; dem streitgegenständlichen Vorfall liege eine Ausnahmesituation zugrunde, die sich in dieser Konstellation nicht ohne weiteres wiederholen könne. Zum einen sei ein erneuter Besuch eines chinesischen Staatspräsidenten in München derzeit nicht absehbar. Sollte es jedoch dennoch dazu kommen, so werde aufgrund der gemachten Erfahrungen eine größere Sicherheitszone festgesetzt, um eine mögliche Gefahr durch die Verletzung von Wurfgeschossen von vornherein auszuschließen. Es sei auch völlig offen, ob bei einem zukünftigen Besuch wiederum die Gefährdungsstufe 1 festgelegt werde. Insgesamt bestünden nicht genügend Anhaltspunkte für den konkreten Eintritt eines vergleichbaren Sachverhalts. Ein Rechtsschutzinteresse der Kläger an der Feststellung ergebe sich auch nicht aus der Behauptung einer möglichen Grundrechtsverletzung, da ein möglicher Eingriff jedenfalls nicht schwerwiegender Natur gewesen sei. Des weiteren werde die Klagebefugnis des Klägers zu 1) bestritten. Er sei nicht Veranstalter der Mahnwache gewesen; seine Mitglieder sollten lediglich als Versammlungsteilnehmer anwesend sein. Dementsprechend gebe es auch nur eine Anmeldebestätigung vom 14. Juli 1995 für die e.V., nicht jedoch für den Kläger zu 1). Eine mögliche Rechtsverletzung von Mitgliedern des Klägers zu 1) könne dieser jedoch nicht in eigenem Namen geltend machen, die Klage sei daher schon mangels Klagebefugnis unzulässig. Jedenfalls seien die Klagen aber unbegründet, da das Grundrecht der Meinungsfreiheit kein Recht darauf gebe, von bestimmten anderen Personen auch gehört zu werden. Die Versammlungsteilnehmer seien nicht daran gehindert worden, Kontakt mit einem aufnahmebereiten Auditorium aufzunehmen. Denn jeder, der an der Mahnwache vorbeigekommen sei, habe ihre Transparente und Flugblätter lesen und sich mit den geäußerten Meinungen auseinandersetzen können. Der chinesische Staatspräsident habe jedoch gerade nicht zu dem Kreis der aufnahmebereiten Zuhörer gezählt, da er über Demonstrationen äußerst ungehalten gewesen sei und diese sicher nicht habe bemerken wollen. Aus den Grundrechten der Art. 5 und 8 GG ergebe sich gerade kein Anspruch darauf, daß der Staat den Kontakt von Versammlungsteilnehmern mit Staatsgästen herzustellen habe. Selbst wenn man jedoch in den beanstandeten Maßnahmen einen Grundrechtseingriff auf Seiten der Kläger sehen wolle, wären diese nach § 15 Abs. 2 Versammlungsgesetz (VersammlG) gerechtfertigt. Für den Besuch des Staatsgastes sei nämlich die höchste Gefährdungsstufe 1 festgelegt worden, da Erkenntnisse bestanden hätten, nach denen mit einem Anschlag zu rechnen sei. Aufgrund dieser Gefährdungslage sei auch am Marstallplatz eine Sicherheitszone eingerichtet gewesen und der Versammlung ein Aufstellungsort außerhalb dieser Zone zugewiesen worden. Gleichwohl habe jedoch auch diese Maßnahme letztlich nicht ausschließen können, daß Gegenstände auf den Staatsgast geworfen würden oder er sogar mit Zwillen beschossen werden könnte. Auch bei einer Distanz von über 60 m habe die konkrete Gefahr der Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des Staatsgastes bestanden. Unter mehreren denkbaren Maßnahmen habe sich die Polizei für das Vorziehen des Busses als die die Adressaten am wenigsten beeinträchtigende Maßnahme entschlossen.

13.

Eine Überprüfung des Gepäcks der an der Mahnwache versammelten Personen sei als einschneidendere Maßnahme verworfen worden. Insgesamt sei bei der Abwägung möglicher Handlungsalternativen ein Ermessensfehler nicht festzustellen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze des Polizeipräsidiums München vom 9. September 1998 und der Landesanwaltschaft Bayern - Außenstelle München - vom 22. Oktober 1998 Bezug genommen.

14.

Diese Schriftsätze erwiderte der Bevollmächtigte der Kläger zu 1) und zu 2) mit Schriftsatz vom 21. Dezember 1998, auf den im übrigen verwiesen wird, im wesentlichen wie folgt: Es sei das primäre Ziel der Veranstaltung gewesen, sich unmittelbar gegenüber dem chinesischen Staatspräsidenten visuell und akustisch zu artikulieren, was durch die polizeilichen Maßnahmen vereitelt worden sei. Insoweit liege auch ein Rehabilitierungsinteresse des Klägers zu 2) vor, das sein rechtliches Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahmen begründe. Im übrigen bestehe Wiederholungsgefahr, da die polizeiliche Vorgehensweise länderübergreifend von den jeweiligen Einsatzleitungen abgesprochen worden sei, denn bereits am 13. Juli 1995 sei es auch in Nordrhein-Westfalen zu einer Verhinderung des Sichtkontakts zum chinesischen Ministerpräsidenten durch Vorfahren von Polizeifahrzeugen gekommen. Die Klage sei auch begründet; der Einsatz der Musikkapelle im Moment der Vorbeifahrt des Staatsgastes habe nicht zum Protokoll gehört, er sei nicht im vorbereiteten Programmablauf vorgesehen gewesen. Es werde bestritten, daß von der Demonstration eine Gefahr für den Staatsgast ausgegangen sei. Die Demonstranten, die ständig im Blickfeld der Polizei gewesen seien, hätten sich völlig ruhig und unauffällig verhalten. Die Polizeimaßnahmen verstießen gegen den Grundsatz, nach dem staatliche Stellen gehalten seien, sich versammlungsfreundlich zu verhalten. Es gehe auch gar nicht darum, daß der Beklagte verpflichtet gewesen sei, einen Kontakt zwischen den Klägern und dem Staatsgast herzustellen, sondern vielmehr nur darum, daß ein sich ergebender Kontakt nicht willkürlich unterbrochen haben werden dürfen.

15.

Mit Schriftsatz vom 5. Januar 1999 nahm auch der weitere Bevollmächtigte des Klägers zu 1) Stellung und trug insbesondere vor, daß erst auf ausdrückliche Empfehlung des Kreisverwaltungsreferats davon Abstand genommen habe, als Veranstalter aufzutreten, sich vielmehr damit zufrieden gegeben habe, seine Mitglieder zu der vom angemeldeten Versammlung aufzurufen. Schon daraus ergebe sich eine veranstalterähnliche Position, aus der heraus eine für die Klagebefugnis ausreichende mögliche Grundrechtsverletzung geltend gemacht werde. Das Feststellungsinteresse ergebe sich aus der diskriminierenden Wirkung der Maßnahmen, denn es werde unterstellt, daß von gewaltsame Akte ausgehen hätten können, obwohl dies in der Vergangenheit niemals der Fall gewesen sei und großer Wert auf Gewaltfreiheit gelegt werde. In der Sache selbst werde bestritten, daß konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Staatsgastes vorgelegen hätten. Zudem sei es bisher weltweit noch zu keinerlei Anschlägen auf Repräsentanten der Volksrepublik China gekommen. Jedenfalls sei aber eine rechtzeitige Überprüfung der Taschen der Teilnehmer an der Mahnwache das mildere Mittel im Verhältnis zu den beiden von der Polizei getroffenen Maßnahmen gewesen. Es sei auch nicht erkennbar, welche andere Funktion die Musikkapelle gehabt haben sollte außer derjenigen, mögliche Sprechchore zu übertönen. Unmittelbar nach der Vorbeifahrt des Staatsgastes hätten sich nämlich die Musiker dann wieder zurückgezogen. Wegen der weiteren Ausführungen wird auf den Schriftsatz vom 5. Januar 1999 verwiesen.

16.

In der mündlichen Verhandlung vom 21. Januar 1999 wiederholten die Beteiligten die schriftsätzlich gestellten Anträge.

17.

Auf die Erklärungen und Äußerungen der Beteiligten in den beiden mündlichen Verhandlungen wird verwiesen.

18.

Ebenso wird Bezug genommen auf die von der Landesanwaltschaft vorgelegten Akten, auf die Gerichtsakte, auf die Akte des Verwaltungsgerichts Köln zum dortigen Verfahren Nr. 20 K 5833/95 und auf die Niederschrift über die mündlichen Verhandlungen vom 28. Mai 1998 und vom 21. Januar 1999.

 

Entscheidungsgründe:

19.

Die Klagen sind zulässig und begründet. Ihnen war deshalb stattzugeben.

20.

1. Die ursprünglich gegen die Landeshauptstadt München gerichtete Klage konnte im Wege der Klageänderung zulässigerweise gegen den Freistaat Bayern gerichtet werden. Die Klageänderung hat die Kammer für sachdienlich erachtet, da bei identischem Prozeßstoff lediglich der hinter den handelnden Polizeibeamten stehende Rechtsträger richtig benannt wurde (vgl. § 91 Abs. 1, 2. Alt. VwGO). Dabei kommt es im vorliegenden Falle eines Parteiwechsels nicht auf die Einwilligung des neuen Beklagten, des Freistaates Bayern, an (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, RdNr. 16 zu § 91). Auch die Weigerung der Landesanwaltschaft Bayern - Außenstelle München - als Vertreterin des öffentlichen Interesses der Klageänderung zuzustimmen, ist angesichts der zu bejahenden Sachdienlichkeit unerheblich. Da die Klagen auch gegen den Freistaat Bayern zulässig sind (vgl. dazu 2.), braucht die Frage nicht zu entschieden werden, ob eine Klageänderung im Fall einer unzulässigen Klage überhaupt sachdienlich sein kann (vgl. hierzu: Kopp/Schenke, VwGO, RdNr. 19 zu § 91).

21.

2. Die Klagen erweisen sich als zulässig.

22.

2.1. Statthafte Klageart ist die (nachträgliche) Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO. Da die Kammer in den diesem Verfahren zugrundeliegenden angegriffenen Maßnahmen der Polizei keine Verwaltungsakte im Sinne des Art. 35 BayVwVfG erkennen kann, scheidet eine Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO aus. Das Vorziehen des Busses und der Aufmarsch der spielenden Musikkapelle sind Realakte, die rechtsgestaltend auf die subjektiven Rechte der Kläger aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Art. 8 Abs. 1 GG einzuwirken geeignet waren. Damit geht es um die Frage des "Bestehens eines Rechtsverhältnisses", bei dem es sich auch um ein in der Vergangenheit liegendes und inzwischen erledigtes Rechtsverhältnis handeln kann (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, RdNr. 5, 18, 25 zu § 43; Urt. des BVerwG vom 3.11.1988, BVerwGE 80, 356, 365; OVG Bremen, NVwZ 1990, S. 1188). Aus dem vergangenen Rechtsverhältnis können sich noch konkrete Auswirkungen ergeben (vgl. unten 2.4.), so daß Rechtsschutz in Form der subsidiären Feststellungsklage begehrt werden kann. Die Möglichkeit einer Rechtsverfolgung im Wege der (vorrangigen) Gestaltungs- oder Leistungsklage war angesichts der nicht angekündigten Maßnahmen von vornherein ausgeschlossen (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO).

23.

2.2. Die exakt ein Jahr nach den streitgegenständlichen Ereignissen eingelegte Klage ist auch nicht verfristet, da für eine allgemeine (nachträgliche) Feststellungsklage keine Fristbindung besteht. Selbst wenn man aber die Einhaltung einer Klagefrist etwa analog § 74 Abs. 1, § 58 Abs. 2 VwGO fordern wollte (offengelassen: BVerwG, DVBl 1967, S. 379, 381), wäre auch diesem Erfordernis Genüge getan. Dabei spielt es keine Rolle, daß die Klage zunächst gegen den falschen Beklagten gerichtet wurde, denn entscheidend ist die Wahrung der Klagefrist in der Person des Klägers unabhängig davon, ob der Beklagte im Wege der Klageänderung später wechselt (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, RdNr. 7 zu § 74 m.w.N.).

24.

2.3. Die Klagebefugnis beider Kläger ist analog § 42 Abs. 2 VwGO zu bejahen. Während sie sich für den Kläger zu 2) problemlos aus einer möglichen Verletzung seiner Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit ergibt, ist der Kläger zu 1) jedenfalls aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG klagebefugt. Dieses Grundrecht ist seinem Wesen nach auch auf juristische Personen des Privatrechts anwendbar (vgl. Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, RdNr. 17 zu Art. 5; Jarass/Pieroth, Grundgesetz, RdNr. 6 zu Art. 5). Es kann damit dahinstehen, ob der Kläger zu 1) eine Klagebefugnis auch aus einer möglichen Verletzung von Art. 8 Abs. 1 GG herleiten kann, da seine Eigenschaft als Veranstalter der Versammlung vom 15. Juli 1995 nicht ohne weiteres erkennbar wird. Die Kammer neigt jedoch dazu, dem Kläger zu 1) auch insoweit eine Klagebefugnis zuzuerkennen; zum einen liegt eine wirksame Versammlungsanmeldung vom 8. Juli 1995 vor, die nicht in Schriftform zurückgenommen wurde. Lediglich nach einem Telefonvermerk des Sachbearbeiters der Landeshauptstadt München habe sich der Kläger zu 1) der Versammlung der Tibet-Initiative anschließen wollen. Zum anderen war der Kläger zu 1) jedenfalls durch etliche seiner Mitglieder, die an der Mahnwache teilgenommen haben, dadurch vertreten, daß diese Transparente und Schrifttafeln mit der Aufschrift präsentiert und somit erkennbar auch die dem Kläger zu 1) zustehenden Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit in dessen Namen wahrgenommen haben.

25.

2.4. Die Kläger haben auch ein berechtigtes Interesse (§ 43 Abs. 1 letzter Hs. VwGO) an der Feststellung der rechtlichen Bewertung der beiden Maßnahmen dargetan. Dieses Interesse ergibt sich einerseits aus dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr, andererseits besteht es in Form eines Rehabilitationsinteresses.

26.

2.4.1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG vom 25.7.1996, Buchholz 310 § 113 Nr. 284) besteht ein solches berechtigtes Interesse unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr nur dann, wenn auch in Zukunft die gleichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse wie in dem für die Beurteilung der erledigten Maßnahme maßgebenden Zeitpunkt vorliegen können. An die "Gleichartigkeit" der Verhältnisse dürfen dabei keine überspannten Anforderungen gestellt werden, da andernfalls die durch Art. 19 Abs. 4 GG aufgestellte Garantie eines lückenlosen gerichtlichen Rechtsschutzes gegen behauptete rechtswidrige Eingriffe der öffentlichen Gewalt ins Leere laufen könnte. Die gerichtliche Entscheidung einer (nachträglichen) Feststellungsklage dient der Klärung der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für zukünftiges Verwaltungshandeln und ist deshalb für die Beteiligten als Richtschnur für künftiges Verhalten von Bedeutung (BayVGH, BayVBl 1983, S. 434, 435; Kopp/Schenke, VwGO, RdNr. 141 zu § 113). Allerdings reicht eine rein theoretisch denkbare Wiederholungsgefahr nicht aus, weil die Garantie umfassenden Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht die Klärung abstrakter Rechtsfragen durch nach Erledigung der Maßnahme erhobene Feststellungsklagen ermöglichen will (BayVGH, a.a.O.). Richtschnurfunktion kommt einer gerichtlichen Entscheidung aber nicht nur dann zu, wenn völlige Identität zwischen dem erledigten und einem künftig zu erwartenden Sachverhalt besteht, sondern schon dann, wenn die entgegengesetzten Rechtspositionen in gleicher Weise mit der Folge wieder aufeinandertreffen können, daß sich die identische Rechtsfrage neuerlich stellt. Gleichartigkeit ist demnach primär nicht für die Sachverhaltskonstellation erforderlich, sondern im Hinblick auf den rechtlichen Kern des Streits, da andernfalls ein Feststellungsinteresse wegen Wiederholungsgefahr so gut wie nie vorliegen dürfte (vgl. auch Rozek, JuS 1995, S. 598). Wiederholungsgefahr ist also zu bejahen, wenn ausreichend Anhaltspunkte dafür bestehen, daß der Eintritt eines vergleichbaren Sachverhalts in absehbarer Zeit konkret möglich erscheint und die hinreichend bestimmte Gefahr besteht, daß unter im wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen eine gleichartige Maßnahme ergehen wird (BVerwG, NVwZ 1990, S. 360; BVerwG, NVwZ-RR 1994, S. 234).

27.

Bei Anlegung dieser Maßstäbe bejaht die Kammer die konkrete Möglichkeit des Eintritts eines vergleichbaren Sachverhalts in absehbarer Zeit bei Entstehen gleicher Rechtsfragen. Wenn auch derzeit ein Besuchstermin eines chinesischen Ministerpräsidenten in München nicht bekannt ist, kann ein baldiger Besuch hoher chinesischer Funktionäre in den nächsten Jahren als durchaus wahrscheinlich betrachtet werden, wenn man die intensiven wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Bayern und der Volksrepublik China betrachtet und berücksichtigt, daß bereits 1994 der damalige Ministerpräsident ebenfalls in München weilte, wobei auch damals Gefährdungsstufe 1 festgelegt wurde. Bei einem neuerlichen Besuch liegt es dann nahe, daß die Kläger sich wiederum veranlaßt sehen, eine Mahnwache durchzuführen, um auf Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen. Darüber hinaus ist die Kammer der Ansicht, daß es für die Wiederholungsgefahr bereits ausreicht, wenn irgendein anderer Staatsgast aus einem der im Jahresbericht des Klägers zu 1) wegen Menschenrechtsverletzungen aufgeführten Ländern in München weilt und unter ähnlichen Umständen von Meinungsäußerungen ihm gegenüber kritisch eingestellter Personen abgeschirmt werden soll.

28.

Auch in dieser Konstellation werden der Kläger zu 1) als Verein zum Schutz der Menschenrechte und der Kläger zu 2) als engagiertes Mitglied auch bei zukünftigen Besuchen mit friedlichen Mitteln des Demonstrationsrechts auf Verstöße gegen die Menschenrechte aufmerksam machen wollen.

29.

In dieser Situation erscheint es dann durchaus wahrscheinlich, daß der Beklagte den Repräsentanten des betreffenden Staates vor von möglichen Demonstrationen ausgehenden Gefahren schützen und ihm zugleich die Wahrnehmung von Demonstranten etwa deshalb ersparen will, weil er gleiches aus seinem Heimatland nicht kennt. Auch bei einem künftigen Besuch eines chinesischen Ministerpräsidenten oder des Repräsentanten eines sonstigen Staates, der wegen Menschenrechtsverletzungen ins Blickfeld des Klägers zu 1) geraten ist, können seitens des Beklagten gleichartige Maßnahmen erwartet werden. Diese Aussage wird bereits durch das Antwortschreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 7. September 1995 auf eine schriftliche Anfrage einer Abgeordneten des Bayerischen Landtags bestätigt; dort wird nämlich die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns insbesondere unter Hinweis darauf bestätigt, daß die von den Teilnehmern an der Mahnwache mitgeführten Taschen und Rucksäcke zum Transport von Wurfgegenständen geeignet gewesen seien, eine Durchsuchung jedoch gegenüber den getroffenen Maßnahmen das stärker eingreifende Mittel bedeutet hätte. Daraus folgt für die Kammer, daß sich der Beklagte in entsprechenden künftigen Situationen wiederum ein gleichartiges Vorgehen vorbehält. Eine ausdrückliche Erklärung, daß bei künftig stattfindenden Mahnwachen auf die angewendeten Mittel verzichtet werde - wie sie im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Köln (Bl. 81 der dortigen Gerichtsakte) vom dortigen Beklagten abgegeben wurde - liegt nicht vor. Die Anordnung der Gefährdungsstufe 1 für den chinesischen Staatspräsidenten anläßlich seines Besuchs im Jahre 1995 - wie bereits beim Besuch seines Vorgängers im Jahre 1994 in der Bundesrepublik - bedeutet zwar offensichtlich eine Besonderheit im vorliegenden Sachverhalt, eine entsprechende Wiederholung ist jedoch gerade beim Besuch hochrangiger Staatsgäste aus Ländern, die in das Blickfeld von geraten sind und damit öffentliche Reaktionen gerade zu provozieren, wahrscheinlich. Im übrigen weist das Gericht darauf hin, daß es durchaus naheliegt, wenn der Beklagte schon im Interesse der wirtschaftlichen Unternehmungen seines Hoheitsbereichs im Falle eines künftigen Besuchs eine Verärgerung seiner Gäste wird vermeiden wollen und bereits aus diesem Grunde zu Maßnahmen greift, die den hier streitgegenständlichen zumindest sehr ähnlich kommen werden.

30.

2.4.2. Das Feststellungsinteresse liegt auch in Form des Rehabilitationsinteresses vor.

31.

Ein solches besteht in Fällen tiefgreifender Grundrechtsbetroffenheit, in denen eine direkte Belastung durch das angegriffene hoheitliche Handeln nach dern typischen Verfahrensablauf auf eine unter Umständen geringe Zeitspanne beschränkt ist, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung in der von der Prozeßordnung vorgegebenen Instanz nicht erreichen kann. Der Grundsatz des effektiven Grundrechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) gebietet es in diesem Fällen, daß der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden, wenn auch erledigten Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen (BVerfG, NJW 1997, S. 2163, 2164). Im vorliegenden Fall machen die Kläger einen gezielten Eingriff in ihre Grundrechte der Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit geltend; Art. 5 und Art. 8 GG verbürgen elementare Grundrechte eines demokratischen Staates, deren Ausübung durch den Staat besonders geschützt werden muß. Durch die Maßnahmen der Polizei wurde die Verwirklichung des angemeldeten Versammlungszwecks teilweise unmöglich gemacht, da die Demonstranten im entscheidenden Moment der Vorbeifahrt des Konvois von diesem aus optisch und akustisch nicht mehr wahrnehmbar waren. Obwohl sich der direkte Eingriff auf eine sehr kurze Zeitspanne beschränkte, kam es den Versammlungsteilnehmern genau auf diese Minuten an, wie sich bereits aus der Versammlungsanmeldung und der Aussage des Klägers zu 2) in der mündlichen Verhandlung ergibt. Das Gericht sieht daher im polizeilichen Vorgehen insgesamt eine nachhaltige Betroffenheit von Grundrechtspositionen der Kläger als gegeben an.

32.

Zudem diskriminiert die spätere Rechtfertigung des Beklagten, durch die getroffenen Maßnahmen haben möglicherweise von den Klägern ausgehende Gefahren verhindert werden müssen, beide Kläger in der Öffentlichkeit, da durch die entsprechenden Medienberichte in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen konnte, von den Klägern könne eine gewisse Gewaltbereitschaft ausgehen. Dieser diskriminierenden Nachwirkung der erledigten Maßnahmen kann nur durch eine gerichtliche Sachentscheidung Rechnung getragen werden (VGH Baden-Württ., DVBl 1995, S. 367, 368).

33.

3. Die danach zulässigen Klagen sind auch begründet, denn die beiden polizeilichen Maßnahmen waren objektiv rechtswidrig und haben die Kläger in ihren Rechten verletzt.

34.

3.1. Die objektive Rechtswidrigkeit ergibt sich daraus, daß keine konkrete Gefahr im polizeirechtlichen Sinne bestanden hatte, die eine der Maßnahmen hätte rechtfertigen können.

35.

Die angegriffenen Maßnahmen der Polizei griffen in den Schutzbereich der klägerischen Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 GG ein, was auch von dem Beklagten nicht in Abrede gestellt, jedoch als zulässiger Eingriff angesehen wird. Die polizeilichen Realakte bedurften daher einer gesetzlichen Grundlage, die sich im vorliegenden Fall nur aus Art. 11 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1, 3 PAG herleiten ließe. Nach diesen Bestimmungen kann die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, um Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zu verhüten und Gefahren abzuwehren, die Leben oder Gesundheit von Personen bedrohen. Voraussetzung für die Durchführung einer derart notwendigen Maßnahme ist eine im Einzelfall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Art. 11 Abs. 1 PAG). Hierbei handelt es sich um die sog. konkrete Gefahr, die dann zu bejahen ist, wenn Anhaltspunkte für eine Sachlage vorliegen, die bei ungehinderten Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im Einzelfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung der betroffenen Schutzgüter führt (vgl. Nr. 11.4 der Vollzugsbekanntmachung zu Art. 11 PAG). Die Kammer kann nicht erkennen, daß von der Mahnwache der Kläger eine konkrete Gefahr in diesem Sinne ausgegangen ist. Bei dem Kläger zu 1) handelt es sich um eine Menschenrechtsorganisation, die ihre Ziele wie allgemein bekannt nicht gewaltsam verfolgt; auch gegenüber der Person des Klägers zu 2) konnte nicht ernsthaft behauptet werden, von ihm würde möglicherweise Gewalt ausgeübt werden. Auch die Tatsache, daß sich unter den Teilnehmern an der Mahnwache möglicherweise Personen befanden, die nicht angehörten sowie die Tatsache, daß Taschen und Rucksäcke mitgeführt und im näheren Bereich der Mahnwache abgestellt wurden, kann für sich allein keine konkrete Gefahr begründen. Das Gericht geht dabei auch davon aus, daß bereits ab Versammlungsbeginn vor Ort zahlreiche zivile und uniformierte Einsatzkräfte anwesend waren und die Situation jederzeit unter Kontrolle hatten. Der Beklagte hat insbesondere keine konkreten Tatsachen vorgetragen, aus denen im Zeitpunkt der Vornahme der angegriffenen Maßnahmen nach polizeilicher Prognose auf eine konkrete Gefahr hätte geschlossen werden können. Entscheidungsrelevant sind in diesem Zusammenhang ausschließlich die Tatsachen der konkreten Veranstaltung und nicht allgemeines Erfahrungswissen der Polizei von ähnlichen Veranstaltungen oder frühere Verhaltensmuster (vgl. OVG Bremen, NVwZ 1990, S. 1188, 1190). Auch die Tatsache, daß für den Besuch des chinesischen Staatspräsidenten die Gefährdungsstufe 1 angeordnet war, begründet allein für sich ebenfalls nicht die Befugnis zur Vornahme von Grundrechtseingriffen; der höchsten Gefährdungsstufe wurde nämlich schon dadurch Rechnung getragen, daß die Mahnwache nicht entlang der direkten Wegstrecke des Konvois stattfinden durfte, sondern immerhin ca. 60 m von der Fahrtroute entfernt abgehalten werden mußte. Insoweit hat die Landeshauptstadt München als für das Versammlungsrecht zuständige Behörde bereits die Gefahrenlage geprüft und in Abstimmung mit den staatlichen Sicherheitsbehörden den Aufstellort für die Mahnwache festgelegt. Gerade die erhebliche Entfernung von ca. 60 m, weiter die Tatsache, daß sich der vorbeifahrende Konvoi sowieso nur für wenige Sekunden im Blickfeld der Mahnwache aufgehalten hätte, und die Annahme, daß es sich bei den vorbeifahrenden Fahrzeugen um gepanzerte Limousinen handelte, widerlegen schließlich das Vorliegen einer konkreten Gefahr im Sinne von Art. 11 PAG.

36.

Eine Eingriffsbefugnis läßt sich im vorliegenden Fall auch nicht aus § 15 Abs. 2 VersammlG herleiten, wie dies der Beklagte in seiner Klageerwiderung tut. Auch im Rahmen dieser Befugnisnorm muß nämlich die konkrete Gefahr von Straftaten gegenüber den Staatsgästen bestanden haben, was durch die Verweisung auf § 15 Abs. 1 VersammlG klargestellt wird. Danach muß eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung feststellbar sein. Wie oben ausgeführt, konnte davon gerade nicht ausgegangen werden.

37.

Die getroffenen Maßnahmen sind auch rechtswidrig, weil sie gegen den verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstießen, der für den Bereich des bayerischen Polizeirechts durch Art. 4 PAG konkretisiert wird. Dabei war die Maßnahme, ein Polizeimusikkorps aufmarschieren und spielen zu lassen, kein geeignetes Mittel, um eine Gefahr abzuwenden. Das Gericht geht davon aus, daß die Polizeikapelle nicht aus protokollarischen Gründen, sondern lediglich zur akustischen Abschirmung der Staatsgäste eingesetzt wurde. Es widerspricht allen Erfahrungen, daß zur Begrüßung von Staatsgästen ein musikalischer Empfang noch während der Vorbeifahrt inszeniert wird; sinnvollerweise hätte das Musikkorps erst nach Erreichen des Fahrtzieles (Apothekenhof) und Aussteigen der Staatsgäste mit dem Musizieren begonnen, nicht bereits während der nur wenige Sekunden dauernden Vorbeifahrt des Konvois. Auch die Tatsache, daß sich die Musikkapelle nach der Vorbeifahrt anschließend sofort wieder zu ihrem Bus zurückgezogen hat, spricht dagegen, daß ihr Auftritt zum Protokoll gehörte.

38.

Auch beim Vorziehen des Busses vor die Mahnwache bestehen bereits erhebliche Zweifel an der Geeignetheit dieser Maßnahme. Jedenfalls war sie aber nicht erforderlich, da ein milderes Mittel zur Gefahrenabwehr bereitgestanden hätte. Bei richtiger Einschätzung der Situation war für die Polizeibeamten ohne weiteres erkennbar, daß einerseits die Durchsuchung von Taschen etc. ein weitaus gezielteres Mittel zur Abwehr von Gefahren dargestellt hätte und daß andererseits die stattdessen vorgenommene völlige optische Abschirmung für die Demonstranten einen unverhältnismäßig stärkeren Eingriff darstellte. Dies erschließt sich bereits daraus, daß die Teilnehmer der Mahnwache Stirnbänder mit chinesischen Schriftzeichen trugen, die sich insbesondere an die erwarteten und vorbeifahrenden chinesischen Staatsgäste richten sollten und nicht an die deutsche Öffentlichkeit, die der chinesischen Sprache im Regelfall nicht mächtig ist. Im übrigen hätten die Polizeibeamten die Wahl gehabt, die Versammlungsteilnehmer zu befragen, welche Maßnahme sie als die mildere erachten, auch wenn dies den Überraschungsaffekt der dann tatsächlich getroffenen polizeilichen Maßnahmen beeinträchtigt hätte.

39.

Es besteht daher keine Befugnisnorm für die vorgenommenen polizeilichen Realakte.

40.

3.2. Die Kläger sind auch durch das rechtswidrige Vorgehen in ihren Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 GG verletzt.

41.

Beide Grundrechte stehen dabei nicht im einem Konkurrenzverhältnis, sondern sind in ihrer Gesamtschau einheitlich zu prüfen; die Versammlungsfreiheit wird als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe verstanden (BVerfG, NJW 1985, S. 2395, 2396 Fall "Brokdorf"). Art. 8 Abs. 1 GG umfaßt die Teilnahme an und die Meinungskundgabe im Rahmen von Versammlungen. Er beinhaltet auch die Pflicht des Staates, die Durchführung von Versammlungen zu ermöglichen und sich "versammlungsfreundlich" zu verhalten, wobei dies um so mehr gilt, wenn sich die Versammelnden friedlich und kooperativ verhalten (BVerfGE 69, 315, 355 f.; Jarass/Pieroth, Grundgesetz, RdNr. 11 zu Art. 8).

42.

Im vorliegenden Fall hatte sich der Kläger zu 1) im Rahmen der Anmeldung der Versammlung mit der Landeshauptstadt München über den Standort der Mahnwache entsprechend den sicherheitsbehördlichen Vorgaben geeinigt und diesen Standort auch eingehalten. Die Versammelten verhielten sich friedlich, ein Ansprechpartner für Organisationsfragen stand jederzeit zur Verfügung. Nach ihrem gesamten Verhalten hätten die Polizeibeamten also den Zweck der Versammlung, nämlich ihre Meinung nicht nur gegenüber den Passanten, sondern auch gegenüber den zu erwartenden chinesischen Staatsgästen zu äußern, schützen müssen und nicht beeinträchtigen dürfen.

43.

Der Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG umfaßt die Meinungsäußerung - das Recht sich hören zu lassen - auch in Form der Teilnahme an einer Demonstration. Geschützt wird auch der von staatlichen Eingriffen unbehinderte, mögliche Empfang der Meinungsäußerung beim gewünschten Adressaten (Jarass/Pieroth, Grundgesetz, RdNr. 4 zu Art. 5; Pieroth/Schlink, Grundrechte-Staatsrecht II, 7. Aufl., RdNr. 684). Zwar gibt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG kein Recht darauf, von jedermann oder auch nur von bestimmten Einzelpersonen gehört zu werden (Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, RdNr. 60 zu Art. 5). Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährt aber das Recht, daß die Möglichkeit des Gehörtwerdens nicht durch die Polizei als Exekutivorgan des Staates verhindert wird. Insofern fungiert Art. 5 GG als Abwehrrecht, mit dem gerade die freie, von der Staatsgewalt nicht zensierte Meinungsäußerung ermöglichen und geschützt werden soll.

44.

Die polizeilichen Maßnahmen greifen in das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit der Kläger ein. Eingriff kann dabei jeder Akt öffentlicher Gewalt sein, der die gewährleistete Freiheit der Ausübung einer individuellen oder kollektiven Meinungsäußerung behindert (Jarass/Pieroth, Grundgesetz, RdNr. 7 zu Art. 5). Dabei geht es nicht um die Frage, ob die Kläger einen Anspruch auf "Herbeischaffen" des chinesischen Ministerpräsidenten als Zuhörer hatten. Sie hatten im übrigen nicht einmal einen Anspruch darauf, daß er eine bestimmte Fahrtroute zurücklegt. Es ging vielmehr nur darum, daß sie einen Anspruch auf die Möglichkeit der Wahrnehmung durch die tatsächlich vorbeifahrenden Staatsgäste hatten, der nicht seitens des Beklagten behindert werden durfte. Dabei spielt es keine Rolle, ob derjenige, dem die Meinungsäußerung primär gilt, überhaupt bereit ist, die Meinung anzuhören; entscheidend ist die von staatlichen Eingriffen unbeeinträchtigte Chance, bestimmte auf öffentlichem Gelände sich bewegende Personen mit seiner Meinungsäußerung zu erreichen, ohne daß er von der so definierten Zuhörerschaft getrennt werden darf (vgl. BayObLG, NJW 1969, S. 1127).

45.

Im vorliegenden Fall wurde jedoch eine so verstandene Kontaktaufnahme, also die Möglichkeit, gesehen und damit auch "gehört" zu werden, durch das Vorziehen des Busses praktisch unterbunden. Allen handelnden Personen war es im übrigen bereits aus der Anmeldung der Versammlung klar, daß die entscheidende Meinungsäußerung direkt gegenüber dem Staatsgast stattfinden sollte, worauf insbesondere auch die Verwendung chinesischer Schriftzeichen einen eindeutigen Hinweis gibt. Daß daneben auch die Kontaktaufnahme mit der deutschen Öffentlichkeit beabsichtigt war und auch unbehindert durchgeführt werden konnte, tritt hinter den genannten Hauptzweck der Mahnwache zurück. Das Gericht sieht in den angegriffenen Maßnahmen letztlich eine besondere geschickte Form staatlicher Zensur, mit der verhindert werden sollte, daß bestimmte Personen mit für diese nachteiligen Meinungsäußerungen konfrontiert werden.

46.

Auch der Einzug und das Aufspielen der Musikkapelle behinderten die Kläger in der Ausübung ihrer Grundrechte. Die Aufstellung und der Aufzug der Musiker bewirkten eine zusätzliche Sichtbarriere auch für den Fall, daß nicht alle Demonstranten durch den Bus verdeckt hätten werden können. Darüber hinaus wurden die Kläger durch das Intonieren von Marschmusik akustisch abgeschirmt und ein bewußter "Ablenkungsfaktor" für die vorbeifahrenden Staatsgäste geschaffen, der die Meinungsäußerung der Versammelten "unhörbar" machen sollte. Auch wenn wohl ursprünglich nach Angaben der Kläger in der mündlichen Verhandlung eine lautstarke akustische Meinungsäußerung etwa durch Sprechchöre nicht geplant war, hätte durchaus rechtmäßig die Möglichkeit bestanden, daß einzelne Versammlungsteilnehmer wie der Kläger zu 2) durch ihre Stimme auf ihr Anliegen aufmerksam machen. Diese Möglichkeit wurde ihnen durch die aufspielende Musik von vornherein genommen, so daß auch hierin ein Grundrechtsverstoß zu sehen ist.

47.

Insgesamt ist keine Rechtfertigung für die vorgenommenen Grundrechtseingriffe erkennbar. Die Meinungsfreiheit und auch die Versammlungsfreiheit als Ausdruck kollektiver Meinungsfreiheit zählen zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Die Meinungsfreiheit ist eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt; erst sie ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform (BVerfG, NJW 1985, S. 2395, 2396). Alle Begrenzungen dieser Grundrechte dürfen nur zum Schutz gleichgewichtiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips geschehen (BVerfG, a.a.O.). Das Interesse an einer ungetrübten und ungehinderten wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und einem dritten Staat kann den für die freiheitlich demokratische Grundordnung elementaren Grundrechten der Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht gleichwertig entgegengesetzt werden.

48.

Nach alledem war den Klagen mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.