Bundesgerichtshof
Urteil vom 16.4.1963
- III ZR 182/63
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 (weitere Fundstellen: BGHZ 42, 176ff.)

 

 

Leitsätze:

1.

Es wird an der Rechtsprechung festgehalten, daß bei der Frage, ob ein bestimmtes Verhalten einer Person als "Ausübung eines öffentlichen Amtes" zu werten ist, entscheidend darauf abgestellt werden muß, ob die eigentliche Zielsetzung, in deren Sinn die Person tätig wurde, dem Bereich hoheitlicher Betätigung zuzurechnen ist und ob bejahendenfalls zwischen dieser Zielsetzung und der schädigenden Handlung ein solcher Zusammenhang besteht, daß letzterer ebenfalls noch als dem Bereich der hoheitlichen Betätigung angehörend angesehen werden muß. Unter diesen Gesichtspunkten muß auch die Frage entschieden werden, ob die Teilnahme am allgemeinen Verkehr im Einzelfall "Ausübung eines öffentlichen Amtes" darstellt oder nicht.

2.

Die Bestimmung des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB (Subsidiaritätsklausel) muß auch dann beachtet werden, wenn die Amtspflichtverletzung bei Teilnahme am allgemeinen Verkehr erfolgt ist, und kann auch im Rahmen von Ersatzansprüchen, die nach dem Finanzvertrag geltend gemacht werden, nicht außer Anwendung bleiben.

 

Aus den Gründen

1.

Das Berufungsgericht will die in Dienstausübung erfolgende Teilnahme eines Amtsträgers am allgemeinen Verkehr, soweit dabei nicht Sonderrechte – etwa nach § 48 StVO – in Anspruch genommen werden, haftungsrechtlich schlechthin aus jedem Zusammenhang mit der Aufgabenwahrnehmung, in deren Rahmen die Teilnahme am allgemeinen Verkehr erfolgt, herauslösen, diese Tätigkeit insoweit in keinem Fall mehr von dem Begriff der "Ausübung eines öffentlichen Amtes" umfaßt sein lassen und die haftungsrechtlichen Folgen von Pflichtwidrigkeiten bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr nicht mehr nach den besonderen Amtshaftungsbestimmungen (Art. 34 GG in Verbindung mit § 839 BGB), sondern nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 823 ff BGB bestimmen. Damit ist ganz allgemein das Problem angesprochen, inwieweit Maßnahmen, die in den Rahmen einer hoheitsrechtlichen Aufgabe fallen, als "Ausübung eines öffentlichen Amtes" zu begreifen sind und ob (und in welchem Umfang) derartige Maßnahmen aus dem Zusammenhang mit der Aufgabe, deren Wahrnehmung sie dienen, etwa herausgelöst und einer isolierten rechtlichen Betrachtung und Wertung unterzogen werden müssen. Anders ausgedrückt: Es geht um die Frage, ob eine bestimmte Handlung eines Amtsträgers, die der Wahrnehmung und Erfüllung einer hoheitsrechtlichen Aufgabe dient, sich deswegen nicht mehr als "Ausübung eines öffentlichen Amtes" darstellt, weil sie – für sich allein betrachtet – nicht das besondere Gepräge hoheitsrechtlicher Tätigkeit aufweist, sondern in ihrer äußeren Erscheinungsform (etwa Teilnahme am allgemeinen Verkehr, Schreibarbeiten usw.) den Tätigkeiten gleicht, wie sie von jedermann vorgenommen werden können und dürfen. Man wird jedoch der vom Gesetzgeber getroffenen besonderen haftungsrechtlichen Regelung der Pflichtwidrigkeiten, die "in Ausübung eines öffentlichen Amtes" geschehen, nicht gerecht, wenn man die Maßnahmen, die der Wahrnehmung und Durchführung einer bestimmten hoheitsrechtlichen Aufgabe dienen, einer verschiedenen rechtlichen Beurteilung unterzieht, je nachdem, ob eine bestimmte Maßnahme – auch wenn man sie ganz isoliert betrachtet – hoheitsrechtliche Tätigkeit darstellt (polizeiliche Festnahme, Löscharbeiten der Feuerwehr, behördliche Entscheidung auf hoheitsrechtlichem Gebiet u. a.), oder ob sie zwar der Verwirklichung der hoheitlichen Aufgabe dient, aber doch bei völlig isolierter Betrachtungsweise als Einzelmaßnahme nicht unmittelbarer Ausdruck hoheitsrechtlicher Tätigkeit ist. Denn alle einer bestimmten öffentlichen Aufgabe dienenden Maßnahmen werden von dieser Aufgabe her in einen Zusammenhang gestellt, sind aufeinander abgestimmt und voneinander abhängig. Die gesamte, einer bestimmten Aufgabe dienende Tätigkeit wird mithin von dieser Aufgabe her zu einer Einheit zusammengefaßt, die im Rahmen des Art. 34 GG eine Aufspaltung in einzelne Tätigkeitsakte und eine dementsprechende isolierte Betrachtung und rechtliche Würdigung solcher Einzelakte ausschließt. Der mit der Regelung in Art. 34 GG verfolgte Zweck – nämlich die Verantwortlichkeit nach Maßgabe des § 839 BGB für allen Schaden, den jemand im Rahmen hoheitlicher Tätigkeit durch pflichtwidriges Verhalten einem Dritten zufügt, auf die öffentliche Hand zu übernehmen und den Amtsträger selbst insoweit von seiner Haftung freizustellen – würde nur unvollkommen erreicht werden, wenn diese Übernahme der Verantwortlichkeit auf die Pflichtverletzungen bei Maßnahmen beschränkt bliebe, die selbst unmittelbare Verwirklichung hoheitsrechtlicher Zwecke darstellen. Der Geschädigte würde dann in den zahlreichen Fällen, in denen die Amtspflichtverletzung nicht bei einer derartigen unmittelbar hoheitlichen Tätigkeit erfolgt, einen Ersatz für seinen Schaden nicht finden können. Denn soweit nicht – wie das vielfach der Fall ist – mit der Amtspflichtverletzung gleichzeitig der Tatbestand einer unerlaubten Handlung im Sinne der §§ 823 ff BGB verwirklicht worden ist, würde eine Inanspruchnahme des Dienstherrn des schuldigen Amtsträgers entweder über §§ 89, 30, 31 BGB oder § 831 BGB nicht möglich sein und allenfalls der Schuldige persönlich – falls er Beamter im beamtenrechtlichen Sinne ist und deswegen auch für nicht im hoheitlichen Tätigkeitsbereich liegende Amtspflichtverletzungen gemäß § 839 BGB einzustehen hat (BGB-RGRK, 11. Aufl. , § 839 Anm. 4; BGHZ 42, 176 [23. Amtshaftung bei Teilnahme am allgemeinen Verkehr], Seite 179Soergel/Siebert, BGB, 9. Aufl. , § 839 Anm. 122) – in Anspruch genommen werden können. Ein derartiges Ergebnis würde mit Sinn und Zweck des Art. 34 GG in Widerspruch stehen und wird auch vom Wortlaut dieser Bestimmung keineswegs gefordert.

2.

Dementsprechend hat bereits das Reichsgericht und ihm folgend auch der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß der gesamte Tätigkeitsbereich, der sich auf die Erfüllung einer bestimmten hoheitlichen Aufgabe bezieht, als Einheit beurteilt werden muß, und daß es nicht angeht, die einheitliche Aufgabe in Einzelakte – teils hoheitsrechtlicher, teils bürgerlichrechtlicher Art – aufzuspalten und einer gesonderten Beurteilung zu unterziehen (RGZ 158, 83, 93; BGHZ 16, 111, 112 /3; BGH NJW 1962, 796/7, jeweils mit weiteren Nachweisen). Bei der Frage, ob ein bestimmtes Verhalten einer Person als "Ausübung eines öffentlichen Amtes" zu werten ist, muß danach entscheidend darauf abgestellt werden, ob die eigentliche Zielsetzung, in deren Sinn die Person tätig wurde, dem Bereich hoheitlicher Betätigung zuzurechnen ist, und ob bejahendenfalls zwischen dieser Zielsetzung und der schädigenden Handlung ein solcher – innerer und äußerer – Zusammenhang besteht, daß letzterer ebenfalls noch als dem Bereich der hoheitlichen Betätigung angehörend angesehen werden muß (vgl. RGZ 166, 1, 5; BGHZ 29, 38, 41; LM Nr. 25 zu Art. 34 GG und Nr. 6 zu § 839 (Fc) BGB u. a. m).

3.

Unter diesen Gesichtspunkten muß auch die Frage entschieden werden, ob die Teilnahme am allgemeinen Verkehr im Einzelfall Ausübung eines öffentlichen Amtes darstellt oder nicht. Denn der Gedanke, in diesem Zusammenhang allein der dienstlichen Teilnahme am allgemeinen Verkehr – sofern sie nicht ausnahmsweise (Fälle des § 48 StVO) in ihrer Eigenart bereits selbst das besondere Gepräge hoheitsrechtlichen Tuns aufweist – eine gesonderte rechtliche Beurteilung zuteil werden zu lassen und sie bei ihrer haftungsrechtlichen Wertung schlechthin aus dem Anwendungsbereich der für die haftungsrechtlichen Folgen sonstigen dienstlichen Verhaltens geltenden Bestimmungen auszuklammern und den insoweit auch für alle Privatpersonen geltenden Vorschriften (§§ 823 ff BGB) zu unterstellen, findet nach Auffassung des Senats in der zur Zeit bestehenden Gesetzeslage keine ausreichende Grundlage. Insoweit wäre vielmehr allein der Gesetzgeber berufen, für die Haftung bei im Rahmen der Teilnahme am allgemeinen Verkehr begangenen Amtspflichtverletzungen, sofern ihm dies geboten erscheint, eine von den sonstigen Amtshaftungsvorschriften abweichende Regelung zu normieren, wie ja auch schon für die Dienst- und Arbeitsunfälle, soweit sie bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr erfolgt sind, in dem Gesetz über die erweiterte Zulassung von Schadensersatzansprüchen bei Dienst- und Arbeitsunfällen vom 7. Dezember 1943 – RGBl I 674 – (jetzt für Arbeitsunfälle aufgehoben durch Art. 4 § 16 Nr. 8 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 – BGBl I 241, 291 – und ersetzt durch § 636 RVO neuer Fassung) von den allgemeinen beamten-, arbeits- und sozialrechtlichen Vorschriften abweichende Bestimmungen getroffen worden sind.

4.

Hier befand sich nach dem Tatbestand des Berufungsurteils der Lastkraftwagen der US-Streitkräfte auf einer Dienstfahrt. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, daß diese Fahrt im Rahmen der hoheitsrechtlichen Aufgaben der Streitkräfte stattfand und zu dieser Aufgabe in einem hinreichend engen inneren und äußeren Zusammenhang stand, so daß der Fahrer in "Ausübung eines öffentlichen Amtes" tätig war. Auch das Berufungsgericht geht davon aus, daß dann, wenn man nicht ganz allgemein die Teilnahme am allgemeinen Verkehr aus dem Bereich der Ausübung eines öffentlichen Amtes herausnimmt, hier die Fahrt des US-Fahrers im Rahmen einer solchen Amtsausübung erfolgt ist. Daß die Pflicht eines am allgemeinen Straßenverkehr teilnehmenden Amtsträgers zur Innehaltung der Verkehrsvorschriften eine ihm gegenüber allen Verkehrsteilnehmern obliegende Amtspflicht ist, nimmt der Senat in ständiger Rechtsprechung an (u. a. BGHZ 21, 48, 51 und 29, 38, 42 ). Der Senat sieht sich nicht veranlaßt, von dieser Auffassung abzugehen.

5.

Die Anspruchsgrundlage für den Klageanspruch ist mithin in Art. 8 Abs. 4 des Finanzvertrages in Verbindung mit Art. 34 GG, §§ 839, 847 BGB zu suchen.

6.

Bestimmt sich danach die Haftung der Beklagten nach § 839 BGB, dann kann die Beklagte auf Schadensersatz nur in Anspruch genommen werden, soweit die Klägerin nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag (§ 839 Abs. 1 Satz 2 BGB). Mag diese Bestimmung bei mancherlei Fallgestaltungen auch heute nicht mehr stets zu sachgerechten Ergebnissen führen, mag sie deshalb auch mit einer gewissen Berechtigung als "antiquiert" bezeichnet werden (vgl. Scheuner, DÖV 1955, 545, 548; BGB-RGRK, 11. Aufl. , Anm. 92 zu § 839), und mag eine Gesetzesreform insoweit notwendig erscheinen, so ist der Richter doch nicht befugt, dem Gesetz von sich aus die Beachtung zu versagen. Er würde damit über die ihm von der verfassungsrechtlichen Ordnung her gesteckten Grenzen hinausgreifen und sich allein dem Gesetzgeber zustehende Befugnisse anmaßen. Ebenso fehlt es an einer ausreichenden Grundlage, um mit dem Berufungsgericht im Wege der "Gebotseinschränkung" die Bestimmung für den am allgemeinen Straßenverkehr teilnehmenden kraftfahrenden Beamten außer acht zu lassen. Eine solche Gebotseinschränkung kann auch nicht, wozu das Berufungsgericht offenbar neigt, mit einer Analogie zu dem oben bereits erwähnten Gesetz über die erweiterte Zulassung von Schadensersatzansprüchen bei Dienst- und Arbeitsunfällen gerechtfertigt werden. In diesen gesetzlichen Bestimmungen geht es darum, den durch einen Dienst- oder Arbeitsunfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr Geschädigten, die nach den allgemeinen beamten- und sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen (§ 151 BBG, § 81 BRRG, § 898 RVO aF) keinen vollen Schadensersatz erlangen konnten, einen erweiterten Anspruch auf Schadloshaltung zu gewähren. In dem hier interessierenden Zusammenhang aber geht es nicht um die Frage des Umfangs des Ersatzanspruchs des Geschädigten. Vielmehr ist die Frage, ob bei Schadenszufügungen durch einen Amtsträger bei Teilnahme am allgemeinen Verkehr die Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB Platz greift oder nicht, für den Umfang des Ersatzanspruchs ohne Bedeutung, hängt vielmehr allein davon ab, wer bei einer Mehrheit von Schädigern Schuldner des Ersatzanspruchs ist und wie die einzelnen Schädiger gegenüber dem Geschädigten und untereinander verpflichtet sind. Die hier zur Beurteilung stehenden Sachverhalte und Rechtsprobleme sind mithin von den in den erwähnten Bestimmungen geregelten derart verschieden, daß schon aus diesem Grunde für eine analoge Anwendung dieser Bestimmungen kein Raum ist.