Landgericht Aschaffenburg 
Urteil vom 26.8.1999
- 2 S 391/98
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 (weitere Fundstellen: NVwZ 2000, 965 ff.)

 

Zum Sachverhalt:

1.

Die Parteien streiten um die Zulässigkeit des nichtlithurgischen Zeitläutens des Glockenwerks im Kirchturm auf dem S.-Platz in A. An diesem Platz wurde 1996 ein Gemeindezentrum für die Bekl. errichtet, zu dem ein freistehender Glockenturm mit Geläut gehört. Die offizielle Einweihung des Zentrums einschließlich Glockenwerk erfolgte 1997. Die Kl. hat bereits 1993 eine Eigentumswohnung im 3. Obergeschoss des Anwesens G.-Platz 15 erworben, die an die Familie P  vermietet ist. Zu dieser Wohnung gehören zwei Dachterrassen. Der Glockenturm befindet sich zu diesem Anwesen in einem Abstand von nur knapp 12 m. Die südlichen Klanganstrittsschächte des Turms befinden sich etwa auf gleicher Höhe der gegenüberliegenden Wohnung der Kl. Nach unbestritten gebliebenem klägerischen Vortrag ist das Glockengeläut so laut, dass die Nutzungsmöglichkeit der Wohnung und insbesondere der beiden Dachterrassen beeinträchtigt ist. Nach der Läuteordnung der Bekl. wird in der Zeit zwischen 8 Uhr und 22 Uhr ein so genanntes Zeitschlagen durchgeführt, wobei die fortschreitenden Viertelstunden mit ein bis vier Glockenschlägen angezeigt werden. Zur vollen Stunde wird die Uhrzeit durch die entsprechende Anzahl von Schlägen einer größeren Glocke angezeigt. Insgesamt werden die Glocken im Rahmen des Zeitschlagens 57 mal betätigt, womit sich insgesamt 249 Glockenschläge ergeben. Die Kl. hatte für das vorangegangene einstweilige Verfügungsverfahren ein Privatgutachten des TÜV Hessen in Auftrag gegeben. Für dieses wurden am 31. 8. 1997 Messungen durchgeführt, die für das vorliegend streitgegenständliche Zeitläuten folgende Werte ergaben: „Energieäquivalenter Dauerschallpegel: 70,3; mittlerer Takt-Maximalpegel: 77,4; Maximalpegel: 80,8". Im Rahmen des nachträglich durchgeführten Widerspruchsverfahrens der Kl. gegen die von der Stadt A. 1995 erteilte Baugenehmigung hat die Regierung von Unterfranken am 7. 8. 1998 erneut Messungen durchgeführt, auf die sich die Kl. mit Schriftsatz vom 7. 9. 1998 und in der mündlichen Verhandlung vom 24. 9. 1998 nunmehr ebenfalls berufen hat. Jedenfalls im Zeitpunkt dieser Messung waren bereits Sperrholzplatten unter den Glockenjalusien angebracht worden. Für das Zeitschlagen wurden folgende Werte gemessen „Energieäquivalenter Dauerschallpegel: 67,2 dB (A); mittlerer Takt-Maximalpegel: 75,3 dB (A); Maximalpegel: 76,9 dB (A)". Die Parteien sind auch darüber einig, dass die kl. Wohnung in einem Gebiet liegt, in dem vorwiegend Wohnungen untergebracht sind. Die Kl. hat zuletzt beantragt, der Bekl. aufzugeben, das Zeitläuten des Glockenwerks des Kirchenturms des Kirchenzentrums ab sofort bis zu dem Zeitpunkt einzustellen, in dem durch geeignete Schallschutzmaßnahmen sichergestellt ist, dass das Läuten des Glockenwerks den Immissionsrichtwert nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift für genehmigungsbedürftige Anlagen nach § 16 GewO, technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA-Lärm) vom 10. 12. 1968 i. V. mit der Richtlinie VDI 2058 Bl. 1 für ein allgemeines Wohngebiet von 55 dB (A) tagsüber nicht überschreitet.

2.

Die Klage hatte Erfolg. Das Rechtsmittel der Bekl. ist in der Sache erfolglos geblieben.

 

Aus den Gründen:

3.

1. Entgegen der Meinung der Bekl. ist bei der Frage, ob das streitgegenständliche Zeitläuten eine wesentliche Lärmbelästigung i. S. des § 906 I BGB darstellt, der Beurteilungspegel gem. 2.10 TA-Lärm 1998 zu Grunde zu legen und nicht allein der Maximalpegel für kurzzeitige Geräuschspitzen (2.8 TA-Lärm). Zwar mag es zutreffen, dass im Rahmen eines längeren Zeitraums ein einzelner Glockenschlag (z. B. um 10.15 Uhr), wenn er den Maximalpegel für kurzzeitige Geräuschspitzen nicht überschreitet, für die Wohnung der Kl. keine wesentliche Lärmeinwirkung darstellt. Vorliegend ist es aber so, dass das Zeitläuten in zeitlich vorgegebenen Abständen von fünf-zehn Minuten regelmäßige Glockenschläge verursacht, und zwar je nach dem aktuellen Zeitpunkt auch in erheblichem Maße (z.B. sechzehn Glockenschläge um 12 Uhr). Das Erstgericht ist insoweit in der Zeit von 8 Uhr bis 22 Uhr zutreffend von 249 Glockenschlägen ausgegangen.

4.

Ein derartiger Umfang von Geräuscheinwirkungen, die zwar kein Dauergeräusch darstellen, aber relativ gleichmäßig über den in Betracht kommenden Zeitraum verteilt sind, kann nicht nur nach den einzelnen Geräuschspitzen beurteilt werden. Es handelt sich nicht um „einzelne kurzzeitige Geräuschspitzen", sondern um regelmäßig wiederkehrende Geräuscheinwirkungen, die zu einer Gesamtbelastung der Wohnung der Kl. führen und daher nach dem Beurteilungspegel (2.10 TA-Lärm) zu bewerten sind.

5.

Dass der VGH München in dem bei ihm anhängigen Verfahren (22 B 99338) für das liturgische Läuten möglicherweise auf den Maximalpegel für kurzzeitige Geräuschspitzen abstellen will, wie sich dies aus dem Hinweis des dortigen Berichterstatters vom 19. 3. 1999 ergeben könnte, spielt für das vorliegend streitgegenständliche Zeitläuten keine Rolle. Das liturgische Läuten findet höchstens zweimal am Tag statt, ist jedoch nicht in regelmäßigen Abständen von einer Viertelstunde auf den Tag verteilt.

6.

2. Die Wesentlichkeit der Lärmimmission für die Wohnung der Kl. ist aber nicht nur wegen der Überschreitung des nach dem Beurteilungspegel maßgebenden Grenzwertes der TA-Lärm. (55 dB [A] für allgemeine Wohngebiete) wesentlich. Die Kammer hat einen Augenschein durchgeführt, bei dem das Zeitläuten um 12 Uhr mit vier Schlägen für die volle Stunde und zwölf Schlägen mit einer anderen Glocke für 12 Uhr von der Terrasse der Wohnung der Kl. aus angehört wurde. Dabei wurde festgestellt, dass das Läuten auch für einen verständigen Durchschnittsmenschen, auf den abzustellen ist (vgl. BGHZ 120, 239 = NJW 1993, 925 [929]; Vieweg/Röthel, NJW 1999, 969), im Bereich der nur ca. 12 m von den Schallaustrittsöffnungen des Glockenturms entfernten Wohnung der Kl. als unangenehm und wesentlich störend empfunden wird.

7.

Auch wenn das Zeitläuten um 12 Uhr vom Umfang her die höchste Belastung darstellt, hat der Eindruck von den einzelnen Schlägen ergeben, dass auch diese am genannten Ort als lästig empfunden werden, so dass auch einzelne Schläge (wie z.B. zur Viertelstunde) bei der Gesamtbeurteilung der Wesentlichkeit der Lärmeinwirkung berücksichtigt werden müssen.

8.

3. Im Ergebnis ist es deshalb so, dass auch für einen verständigen Durchschnittsmenschen das Zeitläuten auf der Terrasse der Wohnung der Kl. eine wesentliche Beeinträchtigung darstellt. Aus der Schallpegelmessung durch die Regierung von Unterfranken am 7. 8. 1998 und den im Schreiben vom 18. 8. 1998 daraus gezogenen Folgerungen ergibt sich, dass der Beurteilungspegel für das Zeitläuten in der Zeit von 8 Uhr bis 22 Uhr bei 59,0 dB (A) liegt. Der für allgemeine Wohngebiete zulässige Höchstwert liegt bei 55 dB (A) (6.1 TA-Lärm) zur Tageszeit und wird nicht unerheblich überschritten. Schon die Überschreitung der Richtwerte der TA-Lärm indizieren eine Beeinträchtigung, die nicht nur unwesentlich ist. Der persönliche Eindruck der Kammer bei dem Augenschein hat dies bestätigt, so dass, wie schon das AG zu Recht festgestellt hat, von einer wesentlichen Beeinträchtigung der Kl. auszugehen ist.

9.

4. Zutreffend sind auch die Ausführungen des Erstgerichts, das von einer Ortsüblichkeit des Zeitläutens nicht ausgegangen werden kann. Dass die Stadt A. bei der Aufstellung eines Bebauungsplans den Glockenturm im Zusammenhang mit den ihn umgebenden Gebäuden miteingeplant hat, kann nicht zu einer Duldungspflicht der Kl. bezüglich der wesentlichen Beeinträchtigungen führen: Der Balkon der Wohnung der Kl. ist von dem Glockenturm nur 12 m entfernt und liegt in etwa auf der Höhe der unteren Fläche der Schallaustrittsöffnungen. Bei anderen Wohnungen, die in anderen Gebäuden und nicht in der gleichen Höhe liegen, ist eine so extreme Beeinträchtigung wie in der Wohnung der Kl. mit Sicherheit nicht gegeben, so dass es an der Voraussetzung fehlt, eine Mehrheit von Grundstücken werde in annähernd gleicher Weise beeinträchtigt (vgl. Palandt/Bassenge, BGB, 58. Aufl., § 906 Rdnr. 25).

10.

5. Die Berufung der Bekl. darauf, dass das Zeitläuten auch ein kirchliches Zeichen setze und damit Teil der Religionsausübung sei, geht fehl. Die Angabe der Zeit durch Glockenschläge, wie sie auch von einem Rathausturm aus geschehen könnte, hat mit Religionsausübung auch dann nichts Zutun, wenn das Zeitläuten von dem Glockenturm einer Kirche stammt.

11.

6. Die Bekl. kann sich auch nicht darauf berufen, dass eine Reduzierung der Lärmeinwirkung durch den Einbau von Schalldämpfkulissen nur schwer erreichbar sei. Nachdem, wie vom AG und von der Kammer festgestellt, die Voraussetzungen für einen Unterlassungsanspruch gem. § 906, 1004 BGB vorliegen, ist es Sache des Störers, seinerseits durch geeignete Maßnahmen die Geräuschimmission auf die Wohnung der Kl. durch geeignete Maßnahmen auf ein zulässiges Maß zu reduzieren. Gelingt ihm dies, so kann das Zeitläuten für die Gemeinde N. fortgeführt werden. Ist die Bekl. nicht bereit oder in der Lage, die von dem Zeitläuten ausgehende Lärmeinwirkung auf die Wohnung der Kl. zu dämpfen, so muss sie das Zeitläuten insgesamt unterlassen.

12.

7. Eine rechtliche Möglichkeit für eine Einschränkung des Verbietungsanspruchs gem. §§ 1004. 906 BGB trotz des Vorliegens der Voraussetzungen dieses Anspruchs auf Grund besonderer Umstände sind nicht gegeben. Weder handelt es sich in Bezug auf das Zeitläuten bei der Bekl. um einen gemeinwichtigen Betrieb, noch können Duldungsansprüche aus § 14 BImSchG hergeleitet werden, und auch aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis kann die Bekl. kein Rücksichtsnahmegebot im Sinne einer Duldungsverpflichtung der Kl. herleiten (vgl. zu den drei Möglichkeiten Staudinger/Roth, BGB, 13. Bearb., § 906 Rdnr. 214).