Oberverwaltungsgericht Berlin
Beschluss vom 13.03.1980
- 6 S 7/80
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 (weitere Fundstellen: NJW 1980, 2484 ff.)

 

 

Leitsätze

1.

Auch dem Störer kann ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung darüber zustehen, ob die Ordnungsbehörde zur Gefahrenabwehr - hier: Obdachlosigkeit - einen Nichtstörer beanspruchen muß.

2.

Allgemeine Untersuchungsergebnisse der empirischen Sozialforschung über die Wirkungen des Lebens in Obdachlosenheimen können den Nachweis einer konkreten Polizeigefahr nicht ersetzen.

3.

Die Unterbringung eines Elternpaares mit 5 Kindern von 4-16 Jahren sowie einem erwarteten Säugling in einem einzigen Raum von knapp 50 qm ist kein geeignetes Mittel zur Abwehr der Obdachlosigkeit.

4.

Zur Abwendung der Obdachlosigkeit durch Wiedereinweisung in die bisherige Wohnung kann ein gemeinnütziges Wohnungsbauunternehmen unter erleichterten Bedingungen als Nichtstörer aufgrund der polizeilichen Generalklausel in Anspruch genommen werden als ein beliebiger Privatmann.

 

Tatbestand

1.

Die miteinander verheirateten Ast. waren bis zur fristlosen Kündigung des Mietvertrages durch die Beigeladene Mieter einer 4½-Zimmer-Wohnung. Durch rechtskräftiges Versäumnisurteil wurden sie verurteilt, die Wohnung zu räumen. Nachdem ein Vollstreckungsschutzantrag zurückgewiesen worden war, nahm der Ag. im Hinblick auf die vom Gerichtsvollzieher anberaumte Zwangsräumung und mangels anderweitiger Unterbringungsmöglichkeiten, die bisher von den Ast. und ihren fünf Kindern im Alter zwischen vier und sechzehn Jahren bewohnte Wohnung mit Wirkung ab 19. 12. 1979 bis zum 31. 1. 1980 ordnungsbehördlich in Anspruch und wies die Familie in die Wohnung ein. Diesen Bescheid hob der Ag. vorzeitig mit Wirkung zum 17. 1. 1980 auf und bot den Ast. und ihren Kindern zugleich eine Unterkunft in dem „Wohnheim B." an.

2.

In dem von den Ast. eingeleiteten Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat das VG nach Besichtigung des Wohnheims den Ag. im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, die Ast. mit ihren Kindern erneut in ihre bisherige Wohnung bis zum 31. 3. 1980 einzuweisen. Die Beschwerde des Ag. wurde zurückgewiesen. Auf Antrag der Ast. verpflichtete das OVG den Ag., die Wohnung der Beigeladenen weiterhin bis zum 15. 7. 1980 zu beschlagnahmen.

 

Gründe

3.

 Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Erlaß der einstweiligen Anordnung ist gemäß § 123 Abs 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis nötig, um wesentliche Nachteile für die Antragsteller und ihre Kinder abzuwenden. Müßten die Antragsteller ihre bisherige Wohnung räumen und die angebotene Unterkunft im Wohnheim B. beziehen, drohten Gefahren für Leben und Gesundheit der Antragstellerin zu 2) und ihres ungeborenen Kindes. Mit der aus dem Beschlußtenor ersichtlichen zeitlichen Begrenzung haben die Antragsteller auch einen Anspruch auf Wiedereinweisung in ihre bisherige Wohnung nach §§ 14 Abs 1, 13 Abs 1 ASOG glaubhaft gemacht, § 113 Abs 3 VwGO, § 920 Abs 2 ZPO.

4.

Ohne Erfolg bestreitet der Antragsgegner die Zulässigkeit des Antrages auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung. Es ist zwar richtig, daß dieser Antrag unzulässig wäre, wenn den Antragstellern in einem Hauptverfahren die nach § 42 Abs 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis fehlte. Das ist jedoch nicht der Fall. Nach § 14 Abs 1 ASOG kann die zuständige Behörde die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren, soweit nicht die §§ 15 bis 29 ASOG ihre Befugnisse besonders regeln. Grundsätzlich sollen aufgrund dieser Vorschrift Gefahren im öffentlichen Interesse abgewendet werden. Das schließt jedoch nicht aus, daß die Gefahrenabwehr aufgrund der polizeilichen Generalklausel des § 14 Abs 1 ASOG unter Umständen auch den Schutz von Individualgütern bezweckt. Dies folgt aus § 4 Abs 2 ASOG, wonach der Polizei der Schutz privater Rechte obliegt, wenn gerichtlicher Schutz nicht rechtzeitig zu erlangen ist oder wenn ohne polizeiliche Hilfe die Verwirklichung des Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde. Zwar enthält § 4 Abs 2 ASOG im Gegensatz zu § 14 Abs 1 keine Eingriffsermächtigung, sondern weist der Polizei lediglich bestimmte Aufgaben zu. Wegen der systematischen Einheit des Gesetzes kann jedoch diese Aufgabenzuweisungsnorm zur Auslegung der Ermächtigungsgrundlage des § 14 Abs 1 herangezogen werden (Erichsen, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer - VVDSTRL - Bd 35 S 211, 215). Trotz der in § 4 Abs 2 ASOG geregelten Subsidiarität polizeilichen Schutzes gegenüber dem Schutz privater Rechte durch die Gerichte ist aus dieser Vorschrift zu folgern, daß unter Umständen auch Individualrechtsgüter in das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit einbezogen sind und deshalb § 14 Abs 1 ASOG in bestimmten Fällen auch Individualinteressen zu dienen bestimmt ist. Zu Recht ist daher ein Anspruch des einzelnen gegen die Ordnungsbehörden auf ermessensfehlerfreie Entscheidung darüber anerkannt, ob die Behörde individualgutschützende Maßnahmen treffen will oder nicht. Dieses Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung kann sich im Einzelfall zu einem Anspruch auf polizeiliches Einschreiten verdichten, wenn sich das Ermessen der Ordnungsbehörde wegen des Ausmaßes und der Schwere der drohenden Gefahr auf eine Pflicht zum Einschreiten reduziert (vgl BVerwGE 11, 95 (97); BVerwG, DVBl 1969, 586; OVG Münster AS 27, 283 (284ff); OVG Lüneburg, DVBl 1976, 719; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 8. Aufl 1. Bd S 166 (169f); Erichsen, aaO; Martens, DÖV 1976, 457 (460); Frotscher, DVBl 1976, 695 (703)).

5.

Ob der weitergehenden Ansicht zuzustimmen ist, daß für ein Entschließungsermessen der Ordnungsbehörde kein Raum sei, aus der Aufgabenzuweisung vielmehr allgemein die Pflicht zum polizeilichen Einschreiten abgeleitet werden könne und sich das Ermessen lediglich auf die Wahl des Mittels erstreckte (Knemeyer, VVDSTRL, Bd 35 S 289, Leitsätze 5 und 6; vgl auch VG Saarlouis, DVBl 1969, S 595, Schnapp, DVBl 1969, S 596 (598); aA Bachof VVDStRL 35, 330f; von Mutius ebenda S 332f; Mußgnug ebenda S 334; Grabitz ebenda S 336f; Erichsen ebenda S 342; Vogel ebenda S 351) kann hier dahinstehen, da angesichts der Schwere der drohenden Gefahr und der Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter (Leben, Gesundheit) der Antragsgegner seinen Pflichten aus § 14 Abs 1 ASOG nur durch ein gefahrenabwehrendes Einschreiten genügen kann* Eine Untätigkeit des Antragsgegners wäre ermessensfehlerhaft. Dies ist zwischen den Beteiligten im Grundsatz auch nicht streitig. Der Antragsgegner hat bisher Bemühungen unternommen, die Antragsteller vor der Obdachlosigkeit zu bewahren. Er hat sie zunächst in die bisherige Wohnung wieder eingewiesen, er hat ihnen eine Bescheinigung zur Vorlage bei Vermietern über eine Mietgarantie von 900-- DM gegeben, er ist ihnen bei der Beantragung eines Wohnberechtigungsscheines behilflich gewesen, hat sie über Wege der Wohnungssuche beraten und hat schließlich eine Unterkunft im Wohnheim B. bereitgestellt. Der Streit geht hier nicht um die Frage, ob der Antragsgegner verpflichtet ist, etwas gegen die drohende Obdachlosigkeit zu unternehmen, sondern ob sein grundsätzlich anzuerkennendes Ermessen hinsichtlich der Wahl des Mittels schrumpft auf die Wiedereinweisung in die bisherige Wohnung. Das ist für die Zeit bis zum 15. Juli 1980 zu bejahen, für die Zeit danach zu verneinen.

6.

Wegen der Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2) ist eine zwangsweise Räumung und Unterbringung im Wohnheim B., ggf unter Einsatz von Polizeigewalt, kein geeignetes Mittel, um die Gefahr der Obdachlosigkeit abzuwenden. Nach dem Attest des Facharztes für Frauenkrankheiten und Geburtshilfe W. vom 5. Februar 1980 wird die Antragstellerin zu 2) voraussichtlich am 5. Mai 1980 entbinden. Der Arzt hat dem Gericht mitgeteilt, eine zwangsweise Räumung vor der Niederkunft bedeute ein erhöhtes Risiko für die Antragstellerin zu 2) und das erwartete Kind. Dies folge aus dem zeitlichen Entwicklungsstand der Schwangerschaft, den mit einem Umzug verbundenen körperlichen Belastungen und den zusätzlichen nervlichen Belastungen eines zwangsweisen Umzuges. Hinzu komme, daß der Zustand der Gebärmutter der Antragstellerin zu 2) wegen der bisherigen Schwangerschaften das Risiko einer Fehlgeburt weiterhin erhöhe. Auch nach der Geburt sollte die gesetzliche Schonfrist eingehalten werden. Die Antragstellerin zu 2) hat damit glaubhaft gemacht, daß die zwangsweise Umsetzung im gegenwärtigen Zeitpunkt schwerwiegende Risiken für sie und das erwartete Kind mit sich brächte. Diese Gefahrenlage bestand zwar nicht am 16. Januar 1980, als der Antragsgegner die Einweisung in die bisherige Wohnung aufhob. Der Fortschritt der Schwangerschaft kann jetzt jedoch weder vom Gericht noch vom Antragsgegner außer acht gelassen werden. Da somit zZ weder die Antragsteller als Störer noch der Antragsgegner in der Lage sind, die Obdachlosigkeit der Antragsteller zu beseitigen, liegen die Voraussetzungen des § 13 Abs 1 Nrn 1 bis 3 ASOG vor, unter denen ausnahmsweise auch die Beigeladene polizeirechtlich in Anspruch genommen werden darf.

7.

Entgegen der Auffassung der Beigeladenen kann die bisherige Wohnung der Antragsteller auch ohne erhebliche Gefährdung und ohne Verletzung höherwertiger Pflichten der Beigeladenen beschlagnahmt werden, § 13 Abs 1 Nr 4 ASOG. Finanzielle Einbußen hat die Beigeladene nicht zu befürchten, da die Miete vom Antragsgegner gezahlt werden wird. Die in der Vergangenheit aufgetretenen Störungen der benachbarten Kindertagesstätte durch das Hinauswerfen von Gegenständen aus den Hause L.-Weg 17 haben nach Auskunft der Kindertagesstätte nachgelassen. Lediglich nach Weihnachten seien zwei bis drei Weihnachtsbäume auf das Gelände der Kindertagesstätte geworfen worden. Ob dies ua auch von den Antragstellern zu verantworten ist, ist weder behauptet noch ersichtlich. Hinsichtlich der von der Beigeladenen behaupteten Auseinandersetzungen zwischen dem Antragsteller zu 1) und dem Hauswartsehepaar bestehen widersprüchliche Aussagen. Bei summarischer Prüfung des Sachverhalts scheint es zwar zu erheblichen Auseinandersetzungen, nicht jedoch zu Tätlichkeiten gekommen zu sein. Auch die von der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung behauptete Bedrohung des Sohnes des Hauswartsehepaares durch den Antragsteller zu 1) erscheint als nicht so erheblich, daß die weitere Einweisung der Antragsteller bis zum 15. Juli 1980 nicht hingenommen werden könnte. Danach gerieten ein Kind der Antragsteller und der Sohn des Hauswartsehepaars beim Spiel auf dem Hofe in Streit, worauf der Antragsteller zu 1) aus der Wohnung den Sohn des Hauswartsehepaares beschimpfte.

8.

Die vom beschließenden Senat angeordnete Dauer der Beschlagnahme geht allerdings unter Einbeziehung der seit dem ursprünglichen Räumungstermin vom 19. Dezember 1979 verstrichenen Zeit über das Maß hinaus, was bisher in der Rechtsprechung als äußerste zeitliche Grenze der Inanspruchnahme eines unbeteiligten Dritten angenommen worden ist. Diese Grenze wurde teilweise mit vier Monaten (OVG Lüneburg ZMR 1955, 60), oder mit sechs Monaten (BGH NJW 1959, 768), in einem Ausnahmefalle mit sechs Monaten und zwei Wochen bestimmt (OVG Münster, ZMR 1956, 285). Bei der Anwendung des § 13 Abs 1 Nr 4 ASOG kann die Beigeladene jedoch nicht verlangen, nur in demselben Maße in Anspruch genommen zu werden wie ein beliebiger Privatmann. Die Beigeladene ist eine gemeinnützige Aktiengesellschaft im Eigentum des Antragsgegners. Nach § 7 Abs 1 des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes - WGG - vom 29. Februar 1940 (RGBl I S 437/BGBl III 2330-8), zuletzt geändert durch das Wohnungsmodernisierungsgesetz vom 23. August 1976 (BGBl I S 2429/GVBl S 2145), soll sich die Beigeladene bei der Gestaltung der Mietverträge und Nutzungsverträge ua von dem Gedanken der Familienförderung leiten lassen. Es bedarf keiner weiteren Darlegung, daß die zwangsweise Räumung im gegenwärtigen Zeitpunkt dem Gedanken der Familienförderung zuwiderläuft, die weitere Einweisung der Antragsteller in ihre bisherige Wohnung diesem Gedanken entspricht, um die Entbindung nicht zu gefährden. Anders als der in § 13 Abs 1 Nr 4 ASOG berücksichtigte Privatmann darf die Beigeladene ihren Grundbesitz nicht zum Zwecke der Gewinnerzielung verwerten. Als gemeinnützig anerkanntes Wohnungsunternehmen dient sie entsprechend § 2 Abs 2 ihrer Satzung ausschließlich und unmittelbar gemeinnützigen Zwecken; ihr wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb darf über den Rahmen einer Vermögensverwaltung nicht hinausgehen, § 1 Abs 2 WGG. Bereits aus diesem Grunde muß das Interesse der Beigeladenen an einer Durchsetzung ihres Räumungstitels in Anbetracht der dargelegten Gefahren für eine Übergangszeit zurücktreten. Der durch § 13 Abs 1 ASOG gezogene Schutzbereich der Beigeladenen ist enger als der eines beliebigen Privatmannes.

9.

Darf der Antragsgegner bereits wegen der Gemeinnützigkeit der Beigeladenen eine ihrer Wohnungen unter gegenüber sonstigen Bürgern erleichterten Bedingungen beschlagnahmen, bedarf es keiner weiteren Erörterung, ob dieses Ergebnis nicht auch daraus abzuleiten wäre, daß die Wohnung der Antragsteller mittelbar dem Antragsgegner als Eigentümer der Beigeladenen gehört.

10.

Trotz der dargelegten gesteigerten Möglichkeit des Antragsgegners, die Beigeladene nach § 13 Abs 1 ASOG in Pflicht zu nehmen, können die Antragsteller nicht verlangen, nach der Beseitigung der Gefahren für Mutter und Kind weiterhin die Wohnung aufgrund polizeirechtlicher Vorschriften benutzen zu dürfen. Gestützt auf die gutachtliche Äußerung des behandelnden Arztes und in Anlehnung an die Schutzfristen des § 6 Abs 1 des Mutterschutzgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. April 1968 (BGBl I S 315/GVBl S 542), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. Juni 1979 (BGBl I S 823/GVBl S 982), setzt das Ermessen des Antragsgegners, die Obdachlosigkeit der Antragsteller auch auf andere Weise als durch Beschlagnahme und Einweisung in ihre bisherige Wohnung zu beseitigen, acht Wochen nach der Entbindung wieder ein. Mit Rücksicht auf das Ende des Schuljahres und den anstehenden Schulwechsel des Sohnes S. der Antragsteller hat der Senat die Einweisung bis zum 15. Juli 1980 befristet.

11.

Für die anschließende Zeit müssen die Antragsteller die vom Antragsgegner angebotene Unterkunft im Wohnheim B. annehmen, falls sie nicht selbst bis dahin eine Wohnung gefunden haben oder ihnen vom Landesamt für Wohnungswesen eine solche benannt worden ist. Den grundsätzlich ablehnenden Erwägungen des angefochtenen Beschlusses gegenüber einer Unterbringung in dem Wohnheim vermag der beschließende Senat nicht beizutreten. Das Verwaltungsgericht ist zu der Auffassung gelangt, die Unterbringung im Wohnheim begründe eine konkrete Gefahr im Sinne von § 14 Abs 1 ASOG, weil mit erheblichen Gesundheitsschäden, Entwicklungsschäden und Persönlichkeitsschäden vor allem der Kinder zu rechnen sei. Soweit diese Beurteilung ua auf der Auswertung empirisch-sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse beruht, ist sie methodisch nicht ausreichend begründet. Allerdings kommt Vaskovics (Stand der Forschung über Obdachlose, Bd 62 der Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, S 108) zu dem Schluß, daß das Leben in Obdachlosenasylen bei der Mehrzahl der Obdachlosen zu folgenden Veränderungen führe:

12.

Orientierungsunsicherheit, Senkung des Anspruchsniveaus hinsichtlich der beruflichen Ausbildung, Abnahme der siedlungsübergreifenden Sozialbeziehungen, Zunahme der siedlungsinternen Sozialbeziehungen oder vollkommener Abbruch der Sozialbeziehungen innerhalb der Siedlung, Erhöhung der gegenseitigen Absetzungsbereitschaft, Rückzug aus Organisationen und Vereinen, negative Einstellungen gegenüber Behörden, insbesondere bei Kindern retardierte Sprachentwicklung, mangelnde kognitive Fähigkeiten, abnehmendes Leistungsstreben, Verhaltensstörungen in der Schule, Zunahme von Krankheitsanfälligkeit.

13.

Diese hier nicht angezweifelten Feststellungen lassen jedoch nicht den Schluß zu, daß die dargelegten Schäden - wie es § 14 Abs 1 ASOG erfordert - in jedem einzelnen Falle einzutreten drohen. Eine konkrete Polizeigefahr im Sinne dieses Gesetzes liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden Einzelfall irgendwann, freilich in überschaubarer Zukunft, mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden muß; abstrakt ist dagegen eine Gefahr, die in gedachten, typischen Fällen, dh aus bestimmten Arten von Handlungen oder Zuständen zu entstehen pflegt (Drews/Wacke/Vogel/Martins, Gefahrenabwehr 8. Aufl 1. Bd S 178). Die allgemeinen Untersuchungsergebnisse der empirischen Sozialforschung können den Nachweis einer im Einzelfall bestehenden Gefahr nicht ersetzen. Bereits nach dem zitierten Bericht treten die geschilderten Schäden "bei der Mehrzahl der Obdachlosen" auf, also nicht in jedem Falle. Angesichts der Unterschiedlichkeit der verschiedenen Obdachlosenheime hinsichtlich der baulichen und personellen Ausstattung sowie hinsichtlich der individuellen Anfälligkeit der einzelnen Familien und ihrer Mitglieder gegenüber schädlichen Einflüssen des Obdachlosenmilieus muß die Gefahrenlage jeweils im einzelnen Falle begründet werden. Soweit das Verwaltungsgericht dies im angefochtenen Beschluß versucht hat, vermag der Senat dem ebenfalls nicht zu folgen.

14.

Das Wohnheim B., insbesondere das Haus 1, in der sich die für die Antragsteller bestimmte Unterkunft befindet, ist ein Obdachlosenheim gehobenen Standards. Nach der Niederschrift über die Ortsbesichtigung vom 28. Januar 1980 ist das für die Antragsteller bestimmte große Zimmer renoviert, in dem Raum befinden sich zwei Waschbecken mit einem Kaltwasserhahn und einem Warmwasserhahn und ein Zentralheizungskörper. Auf demselben Flur stehen eine Herrentoilette und eine Damentoilette mit drei bzw vier Toiletten zur Verfügung. In der Damentoilette befindet sich ein Gemeinschaftsbad. Ferner stehen den Bewohnern des ersten Stockwerks acht Duschen und sechs Waschbecken in einem Waschraum zur Verfügung. Die Gemeinschaftsküche ist mit fünf Kochherden für je drei Flammen ausgestattet. Bei Vollbelegung des ersten Stockwerks dient der Küchenraum für etwa fünfzig Personen. Das Wohnheim B. verfügt darüber hinaus über eine Kindertagesstätte, Sozialarbeiter, Hausmeister, Kochhilfen und Küchenhilfen sowie Krankenschwestern und Kinderkrankenschwestern. Das Haus 1 des Wohnheims B. entspricht somit hinsichtlich der baulichen und personellen Ausstattung einem Obdachlosenheim gehobenen Standards. Da es darüber hinaus von vietnamesischen Flüchtlingen und nicht von typischen, in asoziale Lebensgewohnheiten abgeglittenen Obdachlosen bewohnt wird, ist kein nachteiliger Einfluß der übrigen Bewohner des Hauses auf die Familie der Antragsteller zu befürchten. Die mit einem Umzug in das Wohnhaus verbundenen Schwierigkeiten für die Kinder der Antragsteller sind lösbar. Der Antragsgegner hat in der mündlichen Verhandlung erneut angeboten, den siebenjährigen Sohn G., der wegen einer Sprachstörung eine Sprachklasse der A.-Grundschule besucht, mit einer Kraftdroschke in seine bisherige Schule fahren zu lassen, falls in der in der Nähe gelegenen Grundschule keine Sprachklasse vorhanden sei. Der zwölfjährige Sohn S. wechselt im Herbst dieses Jahres auf die Oberschule über, so daß er durch den Umzug nicht zu einem zusätzlichen Schulwechsel gezwungen wird. Die sechzehnjährige Tochter M. besucht zZ die neunte Klasse einer Realschule. Ihr kann für die Dauer des Besuchs der zehnten Klasse zugemutet werden, die Schule unter Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel zu erreichen.

15.

Das Ermessen des Antragsgegners, wie er die Obdachlosigkeit der Antragsteller nach dem 15. Juli 1980 abwenden will, ist auch nicht durch die vom Senat von B. erlassenen Grundsätze der Obdachlosenhilfe vom 10. Februar 1970 (ABl S 361) in der Weise eingeschränkt, daß die Unterbringung im Wohnhaus B. ausschiede. Zwar besteht nach Nr 2 Abs 2 der Grundsätze die Obdachlosenhilfe bei Nicht-Resozialisierungsbedürftigen in der Versorgung mit geeignetem Wohnraum. Solange dies nicht möglich ist, ist für eine ausreichende Unterkunft grundsätzlich außerhalb von Obdachlosenheimen zu sorgen. Wie aus der als Einschränkung zu verstehenden Beifügung "grundsätzlich" zu entnehmen ist, soll diese vom Antragsgegner sich selbst auferlegte Verpflichtung nicht in jedem Falle gelten. Eine Unterbringung in einem Hotel oder in einer Pension, die bei Alleinstehenden vom Antragsgegner häufig vorgenommen wird, scheidet hier aus, da die von allen Beteiligten angestrebte Aufrechterhaltung des Familienlebens, auch im Hinblick auf den erwarteten Säugling, in dieser Weise nicht gewährleistet werden könnte.

16.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht allerdings die zunächst vom Antragsgegner geplante Unterbringung der Antragsteller und ihrer Kinder in nur einem, wenn auch knapp 50 qm großen Raum gerügt und als kaum noch menschenwürdig bezeichnet. Ob ein polizeiliches Mittel - hier: Einweisung in ein Obdachlosenheim - menschenwürdig ist oder nicht, unterliegt im Laufe der Zeiten Schwankungen, die vom Wandel der Verhältnisse und der Anschauungen bestimmt werden. In Zeiten großer allgemeiner Not bei geringer Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft müssen andere Maßstäbe gelten als in Zeiten allgemeinen Wohlstandes und großer Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft. So ist ein Obdachlosenquartier bescheidenster Art, das in der allgemeinen Wohnungsnot der Nachkriegsjahre infolge der Bombenschäden und der Vertreibung von Millionen Deutscher aus ihrer Heimat bezogen werden mußte, damals noch menschenwürdig gewesen. Aus diesem Grunde vertrat die Rechtsprechung damals ständig die Auffassung, zur Beseitigung der sich aus der Obdachlosigkeit ergebender Gefahren genüge eine Unterkunft in allereinfachster Form, ein vorübergehendes notdürftiges Obdach als Schutz gegen Wind und Wetter (OVG Münster, ZMR 1955, 381; ZMR 1956, 285; ZMR 1958, 371; BAYVGH FEVS 1, 263 (264)). Zu jener Zeit mußte sich auch eine achtköpfige Familie mit einem einzigen Raum von knapp 36 qm zufriedengeben (OVG Münster, ZMR 1958, 371). Was die Anforderungen an eine einigermaßen menschenwürdige Obdachlosenunterkunft betrifft, müssen heute indes die Maßstäbe einer weitgehend materiell gesättigten Gesellschaft angelegt werden. Verbessern sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, so beeinflußt dies in der Regel auch das Urteil darüber, was als menschenwürdige oder menschenunwürdige Unterkunft anzusehen ist. Zu Recht hat deshalb das OVG Lüneburg entschieden, daß bei der Bemessung der dringenden Erfordernisse einer Obdachlosenunterkunft das inzwischen erreichte zivilisatorische Niveau im allgemeinen nicht völlig außer acht gelassen werden dürfe und deshalb eine Obdachlosenunterkunft ohne einen Anschluß für elektrischen Strom unzumutbar ist (Urteil vom 5. August 1970 - IV A 45.68, FamRZ 1971, 669 (670)). Insoweit ist der in Artikel 1 Abs 1 GG gebrauchte Begriff der Menschenwürde wandlungsfähig, allerdings nicht nur in dem Sinne einer steten Aufwärtsentwicklung materieller Bedürfnisse, vielmehr kann bei einer Verschlechterung der Verhältnisse, zB bei einem plötzlichen Zustrom einer großen Zahl von asylsuchenden Obdachlosen, der bisher erreichte Standard, der als Minimum einer menschenwürdigen Existenz angesehen wurde, wieder unterschritten werden.

17.

Hier hat das Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluß überzeugend und im einzelnen dargelegt, daß für eine siebenköpfige Familie mit Kindern zwischen vier und sechzehn Jahren, zu der in absehbarer Zeit ein Säugling hinzukommen wird, die Unterbringung in einem einzigen Raum gegen Artikel 1 Abs 1 Satz 1 GG verstößt. Anders als bei einer Gruppe von sieben bis acht Erwachsenen mit ungefähr gleichartigen Lebensgewohnheiten sind die Verhaltensweisen, Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse von zwei Erwachsenen und demnächst sechs Kindern so unterschiedlich und zugleich so wenig aufeinander abgestimmt, daß bei einer gemeinsamen Unterbringung in einem Raum ständig gegenseitige Störungen unvermeidlich wären. Hinzu kommt hier als Besonderheit die Neigung des Antragstellers zu 1) zu übermäßigem Alkoholgenuß und die sich daran anschließende Neigung zu Gewalttätigkeiten gegenüber Familienmitgliedern.

18.

Da der Antragsgegner jedoch die angebotene Unterkunft im Wohnheim B. inzwischen um einen weiteren, knapp 30 qm großen Raum erweitert hat, spielen diese Erwägungen für die künftige Entscheidung des Antragsgegners keine ausschlaggebende Rolle mehr. Im Rahmen einer notdürftigen Unterkunft für eine vorübergehende Zeit widerspricht es nicht der Menschenwürde der Antragsteller und ihrer Kinder, ihre Wohnbedürfnisse und Schlafbedürfnisse auf diese beiden Räume so zu verteilen, daß eine unzumutbare gegenseitige Belästigung nicht eintritt. Hinzu kommt, daß den Antragstellern in dem Wohnheim weitere Nebenräume wie Küche, Duschen und Toiletten sowie ein Gemeinschaftsraum zur Verfügung stehen.

19.

Falls die Antragsteller bis Mitte Juni 1980 nicht selbst eine Wohnung finden oder der Antragsgegner ihren durch Vermittlung des Landesamts für Wohnungswesen doch noch behilflich ist, eine Wohnung zu finden, müssen sie die vom Antragsgegner angebotene Unterkunft im Wohnheim B. annehmen. Der darüber hinausgehende Antrag der Antragsteller mußte daher insoweit abgewiesen werden.