Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen
Urteil vom 4. Mai 2001
- 1 A 436/00 -

(weitere Fundstellen: NVwZ-RR 2002, 408 ff.)

 

Leitsätze:

1.

Der Anspruch auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen einen Dritten setzt eine Verletzung nachbarschützender Vorschriften voraus.

2.

Das bauordnungsrechtliche Verunstaltungsverbot kann in besonders gelegenen Einzelfällen nachbarschützende Wirkung haben.

 

Zum Sachverhalt

1.

Auf den Grundstücken des Klägers und des Beigeladenen wurde in den 20iger Jahren ein aus drei Einfamilienhäusern bestehendes Wohngebäude errichtet. Das mittlere Haus (Nr. A) springt etwas vor, die beiden Seitenhäuser (Nrn. B und C) sind jeweils um ca. 1 m nach hinten versetzt. Die Grundstücke wurden durch den Bebauungsplan Nr. 688, rechtsverbindlich seit 11. 3. 1969, überplant. Der Bebauungsplan setzt zwischen dem Wohngebäude und der M.-Allee im Vorgartenbereich eine 18 m tiefe nicht überbaubare Zone fest. Die Baugrenze verläuft an der Außenwand des Hauses Nr. A, der dort vorhandene Treppenaufgang liegt seitdem auf nicht überbaubarer Fläche. Demgegenüber befindet sich zwischen der Außenwand der beiden Seitenhäuser und der Baugrenze ein ca. 1 m tiefer überbaubarer Streifen. Im Juli 1998 erweiterte der Beigeladene die im Haus Nr. B seit den 60iger Jahren im Kellergeschoss vorhandene Garage. Die Garage wurde um ca. 2,60 m nach vorne ausgebaut und zusätzlich mit einem 0,5 m tiefen Dachüberstand versehen. Der Ausbau überschreitet die Baugrenze (mit Dachüberstand) um ca. 2 m. Er erfolgte, um im rückwärtigen Teil der Garage Platz für einen Fahrradabstellplatz zu schaffen. Mit Bescheid vom 14. 10. 1998 lehnte das Bauordnungsamt der Beklagten den Erlass einer Beseitigungsverfügung ab. Nach erfolglosen Durchlaufen des Widerspruchsverfahrens erhob der Kläger Klage, welche das Verwaltungsgericht abwies. Die vom Oberverwaltungsgericht zugelassene Berufung des Klägers blieb erfolglos.

 

Aus den Gründen:

2.

Hinsichtlich des Mülleimerabstellplatzes haben die Beteiligten das Verfahren in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht übereinstimmend für erledigt erklärt. Insoweit ist das Verfahren einzustellen und das Urteil des Verwaltungsgerichts für wirkungslos zu erklären (§§ 173 VwGO; 269 Abs. 3 ZPO entsprechend). Im übrigen ist die Berufung unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, daß die Beklagte dem Beigeladenen aufgibt, den Garagenvorbau zu beseitigen. Er kann auch nicht verlangen, daß die Beklagte sein diesbezügliches Begehren neu bescheidet. Das Verwaltungsgericht hat die Verpflichtungsklage insoweit zu Recht abgewiesen.

3.

1. Gemäß § 82 Abs. 1 BremLBO kann die Bauordnungsbehörde, wenn bauliche Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet worden sind, eine Beseitigungsverfügung erlassen. Der Erlaß einer Beseitigungsverfügung liegt im Ermessen der Behörde. Für die Rechtsposition des Nachbarn, der ein behördliches Einschreiten gegen ein bestimmtes Vorhaben erreichen möchte, ist von maßgeblicher Bedeutung, ob die Rechtswidrigkeit des betreffenden Vorhabens auf einer Verletzung nachbarschützender Vorschriften beruht. Sind nachbarschützende Vorschriften verletzt, besteht ein Anspruch darauf, daß die Behörde eine fehlerfreie Ermessensentscheidung über ein Einschreiten trifft. Im Rahmen dieser Ermessensentscheidung hat die Behörde neben dem öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung baurechtsmäßiger Zustände in besonderer Weise die Interessen des in seinen Rechten verletzten Nachbarn zu berücksichtigen (st. Rspr. d. BVerwG, vgl. bereits U. v. 18.08.1960 -- 1 C 42/59 --, BVerwGE 11, 95). Hat die Behörde -- etwa durch Erteilung einer Baugenehmigung -- an der Entstehung des rechtswidrigen Zustands mitgewirkt oder führt die Verletzung der nachbarschützenden Vorschrift nach den Umständen des Einzelfalles in tatsächlicher Hinsicht zu einer qualifizierten Störung, kann der Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung sich zu einem Anspruch auf Einschreiten verdichten (vgl. OVG Bremen, B. v. 12.02.1991 -- 1 B 78/90 --, NVwZ 91, 1006). Verletzt das Vorhaben nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts, hat das Bundesverwaltungsgericht sogar für den Regelfall einen strikten Anspruch auf behördliches Einschreiten in Erwägung gezogen (BVerwG, U. v. 04.06.1996 -- 4 C 15/95 --, NVwZ-RR 97, 271).

4.

2. Nach diesem Maßstab kann der Kläger ein Einschreiten gegen den Beigeladenen nicht verlangen. Es fehlt an der Voraussetzung für einen derartigen Anspruch, nämlich der Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift.

5.

a) Zwar steht das Vorhaben des Beigeladenen in Widerspruch zu der Festsetzung des Bebauungsplans Nr. 688 über die nicht überbaubaren Grundstücksflächen. Der Garagenvorbau ragt (mit Dachüberstand) ca. 2 m in die 18 m tiefe nicht überbaubare Fläche hinein, die der Bebauungsplan hier für den Vorgartenbereich der Grundstücke an der M. festsetzt. Die überschrittene Baugrenze ist aber nicht nachbarschützend.

6.

Ob Festsetzungen eines Bebauungsplans über die überbaubare Grundstücksfläche (§ 23 BauNVO) allein öffentlichen Interessen dienen oder auch darauf gerichtet sind, den Nachbarn zu schützen, hängt vom Willen der Gemeinde als Planungsträger ab (vgl. BVerwG, B. v. 19.10.1995 -- 4 B 215/95 --, NVwZ 96, 888). Vorliegend läßt sich der Begründung des Bebauungsplans Nr. 688 (Brem. Bürgerschaft/Stadt, Drs. 7/80) oder den sonstigen Umständen des Falles nicht entnehmen, daß die Festsetzung nachbarschützende Wirkung haben sollte. Das Verwaltungsgericht hat dies zutreffend ausgeführt; hierauf kann Bezug genommen werden.

7.

Allerdings ist der Nachbar auch dann, wenn gegen eine nicht nachbarschützende Festsetzung eines Bebauungsplanes verstoßen wird, nicht vollkommen schutzlos. Ihm steht Nachbarschutz in entsprechender Anwendung von § 31 Abs. 2 BauGB nach Maßgabe des Gebots der Rücksichtnahme zu (BVerwG, U. v. 06.10.1989 -- 4 C 14/87 --, BVerwGE 82, 343; U. v. 08.07.1998 -- 4 B 64/98 --, NVwZ-RR 99, 8). Im vorliegenden Fall kann jedoch nicht angenommen werden, daß durch die Überschreitung der Baugrenze um 2 m das nachbarliche Austauschverhältnis in qualifizierter Weise gestört ist. Der Garagenvorbau befindet sich in einer Flucht mit den Vorbauten auf dem Grundstück des Klägers. Er liegt teilweise unter Erdgleiche und nimmt den Vorgartenbereich insgesamt eher geringfügig in Anspruch. Nach dem Eindruck, den das Oberverwaltungsgericht bei der Ortsbesichtigung gewonnen hat, drängt es sich auf, daß allein das Überschreiten der Baugrenze nicht rücksichtslos i. S. von § 31 Abs. 2 BauGB ist.

8.

b) Das Verunstaltungsverbot des § 12 Abs. 1 BremLBO, auf das der Kläger sein Begehren weiterhin stützt, entfaltet -- jedenfalls nach den konkreten Gegebenheiten des Falles -- ebenfalls keine nachbarschützende Wirkung. Es scheidet deshalb als Grundlage für einen Anspruch auf behördliches Einschreiten oder auf Neubescheidung aus.

9.

Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Bremen (vgl. U. v. 13.03.1984 -- 1 BA 49/83 --) sowie der übrigen Oberverwaltungsgerichte (vgl. die Nachweise bei Gädtke/Böckenförde/Temme/Heintz, Kommentar zur LBO Nordrhein-Westfalen, 9. Aufl., § 12 Rdnr. 8) ist das bauordnungsrechtliche Verunstaltungsgebot nicht nachbarschützend. Es dient vielmehr allein dem öffentlichen Interesse. Es erscheint allerdings nicht ausgeschlossen, daß diese Rechtsprechung der Differenzierung bedarf. In § 12 Abs. 1 BremLBO heißt es, daß bauliche Anlagen nach Form, Maßstab, Verhältnis der Baumassen und Bauteile zueinander, Werkstoff und Farbe so gestaltet sein müssen, daß sie nicht verunstaltet wirken. Die Vorschrift begreift eine bauliche Anlage als eine gestalterische Einheit. Es erscheint denkbar, daß daraus im Einzelfall nachbarliche Wechselbeziehungen resultieren können. Das gilt in gleicher Weise für das Verhältnis einer baulichen Anlage zu seiner Umgebung, das in § 12 Abs. 2 BremLBO erfaßt wird. Je nach dem Gewicht des vorhandenen gestalterischen Gefüges sowie der Art der beabsichtigten Änderung kann ein "Ausbrechen" aus dem vorgegebenen Rahmen unter Umständen eine qualifizierte Störung des nachbarlichen Austauschverhältnisses bewirken (zum bauplanungsrechtlichen Austauschverhältnis bei Doppelhäusern und Hausgruppen, vgl. BVerwG, U. v. 24.02.2000 -- 4 C 12/98 --, NVwZ 00, 1055). Eine nachbarschützende Wirkung des Verunstaltungsverbots wird man insoweit aber nur ausnahmsweise in Fällen besonderer Rücksichtslosigkeit in Erwägung ziehen können (so auch Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, Kommentar zur LBO Niedersachsen, 6. Aufl., § 53 Rdnr. 17). Das nachbarliche Austauschverhältnis muß nach den konkreten örtlichen Gegebenheiten evident gestört sein.

10.

Eine derartige Störung kann hier nicht angenommen werden. Die Häusergruppe M. Nr. 49 - 53 ist in den 20iger Jahren zwar in einheitlicher Gestaltung errichtet worden. In den nachfolgenden Jahrzehnten sind indes nicht unerhebliche Veränderungen vorgenommen worden, die sich nachteilig auf das ursprüngliche gestalterische Gefüge ausgewirkt haben. So wurde in den 50er Jahren im Mittelhaus, dessen jetziger Eigentümer der Kläger ist, eine Kellergarage eingebaut. Im Seitenhaus, das im Eigentum des Beigeladenen steht, wurde in den 60er Jahren ebenfalls eine Kellergarage eingebaut, darüber hinaus wurde das ganze Gebäude um ca. 3 m erweitert, wobei der Eingangsbereich grundlegend umgestaltet wurde. Anfang der 90iger Jahre erhielten die Dacherker dieses Hauses, die deutlich den vorhandenen Rahmen überschreiten, ihre jetzige Form. Die ursprünglich gegebene gestalterische Einheit war mithin bei Errichtung des Garagenvorbaus bereits deutlich beeinträchtigt. Berücksichtigt man weiter, daß der Vorbau durch seine Abmessung sowie seine Lage teilweise unter der Erdgleiche nach seinem äußeren Erscheinungsbild keinen prägenden Charakter besitzt, kann von einer evidenten, nachbarlichen Störung keine Rede sein.

11.

Eine andere Frage ist, daß der Vorbau in seiner jetzigen Ausführung zweifellos unschön wirkt. Bei der Ortsbesichtigung ist angesprochen worden, wie durch bestimmte Änderungen eine Verbesserung des optischen Eindrucks erzielt werden könnte. Das ändert aber nichts daran, daß der jetzige Zustand, auch wenn er unbefriedigend ist, von einer besonderen gestalterischen Rücksichtslosigkeit, die möglicherweise einen nachbarlichen Abwehranspruch begründen könnte, noch entfernt ist.

12.

c) Soweit der Kläger sich im Berufungsverfahren -- erstmals -- auf die Verletzung von Brandschutzvorschriften beruft (§ 34 Abs. 7 und 9 BremLBO; § 7 Abs. 1 und 2 Brem-GaVO), verleiht ihm dies ebenfalls keinen Anspruch darauf, daß die Beklagte gegen den Beigeladenen ein Beseitigungsgebot erläßt oder den Erlaß eines derartigen Gebots nochmals prüft. Die Beklagte ist der Behauptung einer Verletzung von Brandschutzvorschriften mit konkreten und detaillierten Erwägungen entgegengetreten (Schriftsatz vom 03.05.2001). Letztlich kann diese Frage hier aber dahinstehen. Denn die Beklagte hat weiter geltend gemacht, daß auf einen etwaigen Verstoß jederzeit mit Brandschutzauflagen reagiert werden könnte; hierfür sei ein Abriß des gesamten Garagenvorbaus nicht erforderlich. Diese Erwägung leuchtet unmittelbar ein.