Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen
Urteil vom 4.11.1996
- 10 A 3363/92
-

 (weitere Fundstellen:  NWVBl 1997, 218 ff.)

 

Leitsätze

1.

Hat die Ordnungsbehörde dem Ordnungspflichtigen durch Ordnungsverfügung den Abbruch eines einsturzgefährdeten Gebäudes aufgegeben, erledigt sich diese Ordnungsverfügung nicht dadurch, daß die Ordnungsbehörde das Gebäude im Wege der Ersatzvornahme abreißen läßt, weil und solange die Ordnungsverfügung noch Voraussetzung dafür ist, den Ordnungspflichtigen auf Kostenerstattung in Anspruch zu nehmen.

2.

Auch nach dem Abriß ist eine Anfechtungsklage gegen die Ordnungsverfügung zulässig.

 

Zum Sachverhalt

1.

Der Beklagte (Bauaufsichtsbehörde) gab der Klägerin durch Ordnungsverfügung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung auf, ein in ihrem Eigentum stehendes Gebäude wegen akuter Einsturzgefahr abzubrechen. Weil die Klägerin diesem Gebot innerhalb der gesetzten Frist nicht nachkam, setzte der Beklagte die angedrohte Ersatzvornahme fest, ließ durch einen Unternehmer das Gebäude abbrechen und nahm die Klägerin auf Kostenerstattung in Anspruch. Nach erfolglosen Widersprüchen hat die Klägerin Klage erhoben gegen die Ordnungsverfügungen, mit denen der Beklagte den Abbruch des Gebäudes verlangt und die Ersatzvornahme festgesetzt hatte, ferner gegen den Kostenbescheid. Das VG hielt die Klage für unzulässig, soweit sie sich gegen die Ordnungsverfügungen richtet; diese hätten sich durch den Abbruch des Gebäudes erledigt. Das OVG sah die Klage auch insoweit als zulässig an.

 

Gründe

2.

Die Klage ist mit allen Hauptanträgen zulässig. Namentlich hat die Klägerin noch ein Rechtsschutzinteresse daran, daß die Ordnungsverfügungen des Beklagten vom 7.9.1989 und vom 28.9.1989 aufgehoben werden. Mit ihnen hat der Beklagte der Klägerin aufgegeben, das Gebäude S-Straße 49 abzubrechen, hat ihr die Ersatzvornahme angedroht und diese festgesetzt.

3.

Wie das VG mit Recht ausgeführt hat, fehlt das Rechtsschutzinteresse, wenn die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes nicht notwendig ist. Das wäre der Fall, wenn von den angefochtenen Ordnungsverfügungen keine Rechtswirkungen mehr ausgehen, welche die Klägerin belasten. Die Aufhebung der Ordnungsverfügung könnte unter dieser Voraussetzung die Rechtsstellung der Klägerin nicht verbessern. Die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes wäre nicht (mehr) notwendig, weil sich die belastende Wirkung der Ordnungsverfügung auf andere Weise ohnehin erledigt hat.

4.

1. Die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 7.9.1989 hat sich nicht in der Weise erledigt, daß von ihr keine Rechtswirkungen mehr ausgehen.

5.

Erledigt haben mag sich zwar das Gebot an die Klägerin, das Gebäude S-Straße 49 abzubrechen. Durch den tatsächlichen Abbruch des Gebäudes geht die Aufforderung zu einer solchen Maßnahme ins Leere. Das maßgebliche Regelungsobjekt ist untergegangen (so OVG NW, Urteil vom 23.5.1995 - 11 A 1004/93 -).

6.

Das Abbruchgebot mag die Klägerin deshalb nicht mehr beschweren.

7.

Die Beschwer, deren Wegfall den Verwaltungsakt erledigt, ist aber nicht ausschließlich auf den Regelungsgehalt der Ordnungsverfügung zu beziehen (so aber: Gerhardt in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, § 113 RdNr. 82; OVG Schleswig, Urteil vom 20.10.992 - 4 L 73/92 - NJW 1993, 2004 unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 15.11.1990, NVwZ 1991, 570; jener Entscheidung lag aber ein Sachverhalt zugrunde, der keinen Anlaß bot, zur Möglichkeit einer fortdauernden Beschwer jenseits des erledigten Regelungsgehalts Stellung zu nehmen).

8.

Der prozeßrechtliche Begriff der Erledigung in § 113 VwGO muß nicht völlig deckungsgleich sein mit dem verwaltungsverfahrensrechtlichen Begriff der Erledigung in § 43 Abs. 2 VwVfG NW. Keine Erledigung liegt vor, wenn der angefochtene Verwaltungsakt rechtlich oder tatsächlich noch irgendeine belastende Wirkung entfaltet.

9.

Eine Ordnungsverfügung erschöpft sich in ihrer Rechtswirkung nicht in einem Gebot oder Verbot an den Ordnungspflichtigen. Mit der Ordnungsverfügung verschafft die Ordnungsbehörde sich den erforderlichen Titel, der sie berechtigt, gegebenenfalls im Wege des Verwaltungszwanges gegen den Ordnungspflichtigen vorzugehen (§ 55 Abs. 1 VwVG NW). Die fortdauernde Wirksamkeit der Ordnungsverfügung als Titel ist Voraussetzung für alle weiteren Maßnahmen des Verwaltungszwanges. Die Maßnahmen des Verwaltungszwanges bauen auf der Wirksamkeit der Ordnungsverfügung auf. Die Ordnungsverfügung wirkt in ihnen als Voraussetzung des Verwaltungszwanges fort. Die Ordnungsverfügung hat sich solange nicht erledigt, als das Verfahren des Verwaltungszwanges noch nicht endgültig abgeschlossen ist, die Ordnungsbehörde also von dem selbst geschaffenen Titel noch Gebrauch macht. Die Titelfunktion des Verwaltungsakts soll diesem damit keinen ewig währenden Bestand verleihen (so die Kritik von Gerhardt in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, § 113 RdNr. 88).

10.

Nur solange die Behörde an den Titel noch weitere Rechtsfolgen zu Lasten des Betroffenen anknüpfen darf und will, ist für diesen die Beschwer nicht weggefallen. Für Verwaltungsakte, die auf eine Geldleistung gerichtet sind, ist dies auch ohne weiteres anerkannt. Die Beitreibung der Geldleistung erledigt den auf ihre Zahlung gerichteten Verwaltungsakt nicht. Dieser wirkt vielmehr als Titel für das Behaltendürfen der zwangsweise beigetriebenen Beträge fort. Eine solche Fortwirkung kann auch die bereits vollzogene Ordnungsverfügung entfalten, wenn sie noch die Grundlage für weitere Verwaltungsakte, insbesondere einen Kostenbescheid, bildet(so: Spannowsky in Sodan/Ziekow, Kommentar zur VwGO, § 113 RdNr. 148 und 150; Kopp, VwGO, § 113 RdNr. 52).

11.

Die streitige Abbruchverfügung des Beklagten hat sich als Titel nicht erledigt. Zwar hat der Beklagte das Haus im Wege der Ersatzvornahme durch einen Unternehmer abbrechen lassen. Das Zwangsmittel der Ersatzvornahme erschöpft sich indes nicht in der Vornahme der Handlung durch einen Dritten anstelle des Pflichtigen. Zur Ersatzvornahme gehört vielmehr, daß die Vollzugsbehörde die Handlung selbst oder durch einen Dritten "auf Kosten des Betroffenen" vornimmt. Die Heranziehung des Ordnungspflichtigen zu den Kosten der Ersatzvornahme ist deshalb noch Teil der Verwaltungsvollstreckung. Die Ordnungsverfügung als Grundlage der Verwaltungsvollstreckung ist auch Voraussetzung dafür, den Pflichtigen zu den Kosten der Ersatzvornahme heranzuziehen. Die Kostenerstattung ist selbst zwar nicht in der Abbruchverfügung geregelt; sie setzt aber die fortdauernde Wirksamkeit der Grundverfügung über den Zeitpunkt der Ersatzvornahme hinaus voraus. In der Pflicht zur Kostenerstattung wirkt die Ordnungsverfügung fort. Sie hat sich mit dem Abbruch des Gebäudes insoweit nicht erledigt (vgl. OVG NW, Beschluß vom 2.12.1986 - 20 B 360/86 -; VGH Mannheim, Beschluß vom 26.3.1984 - 14 S 2640/83 - NVwZ 1985, 202/205; VGH Mannheim, Urteil vom 20.1.1989 - 5 S 3157/88 - NVwZ-RR 1989, 515; a.A.: OVG Schleswig, Urteil vom 20.10. 1992 - 4 L 73/92 - NJW 1993, 2004; soweit der 7. und der 11. Senat des OVG NW, Beschluß vom 20.9.1993 - 7 A 2127/93 -; OVG NW, Urteil vom 23.5.1995 - 11 A 1004/93 - anderer Ansicht waren, halten sie hieran nicht fest).

12.

Deshalb ist unerheblich, daß der Abbruch des Gebäudes und damit der Vollzug des Handlungsgebots selbst nicht mehr rückgängig gemacht werden können.

13.

Bildet die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 7.9.1989 danach die Voraussetzung für seinen Kostenerstattungsanspruch, kann der Klägerin das fortdauernde Rechtsschutzinteresse nicht mit der Erwägung abgesprochen werden, bei Anfechtung des Kostenbescheides des Beklagten sei zu überprüfen, ob der Beklagte von der Klägerin den Abbruch des Gebäudes verlangen durfte und damit berechtigt war, diesen Abbruch auf ihre Kosten vornehmen zu lassen. Wie das VG mit Recht unter Hinweis auf (BVerwG, Urteil vom 13.4.1984 - 4 C 31.81 - Buchholz 345 § 10 VwVG Nr. 4)dargelegt hat, ist Voraussetzung des Kostenerstattungsanspruchs die Rechtmäßigkeit der Ersatzvornahme. Diese hängt davon ab, daß ein unanfechtbarer oder vollziehbarer auf Vornahme einer Handlung gerichteter Verwaltungsakt, ferner eine wirksame Androhung, die bereits mit dem Verwaltungsakt auf Vornahme der Handlung verbunden werden kann, und ein wirksamer Bescheid über die Festsetzung der Ersatzvornahme vorliegen. Dagegen kommt es nicht darauf an, ob der auf Vornahme der Handlung gerichtete Verwaltungsakt, die Androhung der Ersatzvornahme und deren Festsetzung rechtmäßig waren, wenn sie nicht nichtig und auch nicht mehr anfechtbar sind (anders für den Fall, daß sich die Grundverfügung vor Eintritt ihrer Unanfechtbarkeit erledigt habe und deshalb erstmals im Rechtsstreit über die Vollstreckungskosten ihre Rechtmäßigkeit zur Prüfung stehe: VGH Mannheim, Urteil vom 9.6.1988 - 1 S 1544/87 - NVwZ 1989, 163; in diesem Fall soll sich die gerichtliche Kontrolle auch auf die Rechtmäßigkeit der vollstreckten Grundverfügung erstrecken).

14.

Tragender Grundsatz des Verwaltungsvollstreckungsrechts ist, daß die Wirksamkeit und nicht die Rechtmäßigkeit voraufgegangener Verwaltungsakte Bedingung für die Rechtmäßigkeit der folgenden Akte und letztlich der Anwendung des Zwangsmittels ist. Anders ausgedrückt: Voraussetzung für den Kostenerstattungsanspruch ist die Existenz einer Grundverfügung als Titel, nicht aber die inhaltliche Richtigkeit des Titels. Die Klägerin ist damit auf die Beseitigung der Abbruchverfügung als Titel angewiesen und diese kann sie nur im Wege der Anfechtungsklage gegen die Abbruchverfügung selbst erreichen (vgl.: Schenke/Baumeister, Probleme des Rechtsschutzes bei der Vollstreckung von Verwaltungsakten, NVwZ 1993, 1). Ist danach die Abrißverfügung des Beklagten vom 7.9.1989 in dieser Weise Voraussetzung für den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch, nützt die Aufhebung der Ordnungsverfügung der Klägerin trotz Abbruch des Hauses. Eine Aufhebung der Ordnungsverfügung wirkt auf den Zeitpunkt ihres Erlasses zurück. Sie bewirkt rückwirkend den Wegfall der Ordnungsverfügung. Sie entzieht nachträglich den Vollstreckungsakten einschließlich des Kostenerstattungsanspruchs ihre Grundlage. Die Vollstreckungsakte knüpfen an die Wirksamkeit (und Vollziehbarkeit) eine Grundverfügung an, nicht aber daran, daß eine Ordnungsverfügung tatsächlich im Zeitpunkt der Vollstreckungshandlung vorlag. Die Voraussetzungen der Vollstreckung können damit nachträglich wegfallen. Wird rückwirkend die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen eine sofort vollziehbare Ordnungsverfügung wiederhergestellt oder angeordnet, entfällt damit nachträglich die Grundlage für ursprünglich rechtmäßige Vollzugsakte; diese werden dadurch rechtswidrig (vgl.: OVG NW, Urteil vom 16.6.1983 - 4 A 2719/81 - DöV 1983, 1024). Ebenso kann rückwirkend durch die Aufhebung einer Ordnungsverfügung nachträglich ihre Wirksamkeit beseitigt werden. Damit wird ebenfalls ursprünglich rechtmäßigen Vollziehungsakten nachträglich die Rechtsgrundlage entzogen (so: Schenke/Baumeister, Probleme des Rechtsschutzes bei der Vollstreckung von Verwaltungsakten, NVwZ 1991, 1/3); sie werden rechtswidrig. Hat der Ordnungspflichtige - wie hier die Klägerin - durch rechtzeitige Anfechtung der Ordnungsverfügung den Eintritt ihrer Unanfechtbarkeit verhindert und hat die Ordnungsbehörde die Ordnungsverfügung - wie hier der Beklagte - aufgrund einer angeordneten sofortigen Vollziehung vollstreckt, trägt die Ordnungsbehörde das Risiko, das sich nachträglich im Hauptsacheverfahren die Rechtswidrigkeit der Ordnungsverfügung herausstellt und diese aufgehoben wird. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung verschiebt dieses Risiko nicht endgültig auf den Ordnungspflichtigen, sondern ermöglicht der Ordnungsbehörde nur, vor Eintritt der Unanfechtbarkeit den Verwaltungsakt zu vollstrecken.

15.

2. Aus denselben Gründen ist die Klage gegen die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 7.9.1989 auch insoweit zulässig, als der Klägerin darin das Zwangsmittel der Ersatzvornahme angedroht wird. Das gilt ferner, soweit die Klage sich gegen die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 28. 9.1989 richtet, mit welcher der Beklagte die Ersatzvornahme festgesetzt hat.