Verwaltungsgericht Berlin
Urteil vom 14.11.1997
- 3 A 817/97
-

 (weitere Fundstellen: NJW 1998, 1243 f.)

 

 

Tatbestand

1.

Die Kl., Eltern und ihre drei schulpflichtigen Kinder wenden sich gegen die Einführung der sogenannten Rechtschreibreform im Schulunterricht, Die Kl. zu 3 bis 5 besuchen im Schuljahr 1997/98 die erste, zweite und vierte Klasse der B.-Grundschule in Berlin. Zur Begründung ihrer Klage führen die Kl. im wesentlichen aus, daß die Unterrichtung der Kl. zu 3 bis 5 nach den geänderten Rechtschreibregeln in das Erziehungsrecht der Kl. zu 1 und 2 eingreife und dies durch das Recht des Staates zur staatlichen Schulaufsicht nicht gedeckt sei. Die Kl. zu 3 bis 5 würden in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht sowie dem in Art. 20 I 1 BerlVerf. niedergelegten Recht auf Bildung verletzt. Denn die Rechtschreibreform führe völlig neue, ungebräuchliche Schreibweisen ein, was jedenfalls ohne eine gesetzliche Ermächtigung nicht zulässig sei.

2.

Das VG gab der Klage statt.

 

Aus den Gründen:

3.

I. Die Klage ist zulässig.

4.

Statthafte Klageart ist die allgemeine Leistungsklage in Form der Unterlassungsklage. Denn die Klage richtet sich dagegen, daß den Kl. zu 3 bis 5 im Unterricht die von der Kultusministerkonferenz beschlossene Neuregelung der deutschen Rechtschreibung vermittelt wird. Die Kl. begehren somit die Unterlassung schlicht hoheitlichen Handelns.

5.

Die Kl. verfügen auch über das erforderliche allgemeine Rechtsschutzbedürfnis. Zum einen knüpft ihr Unterlassungsbegehren an eine behauptete andauernde Beeinträchtigung an. Denn die Kl. sind durch die ab dem 1. 8. 1998 vorgesehene Einführung der von der Kultusministerkonferenz beschlossenen Rechtschreibregeln, die im Vorgriff auf die Neuregelung bereits seit Beginn des Schuljahres 1996/97 an den Berliner Schulen unterrichtet werden, auch in Zukunft weiter betroffen. Zum anderen gibt es keine einfachere und naheliegendere Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Rechte als die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes. Das Rechtsschutzbedürfnis bei allgemeinen Leistungsklagen der vorliegenden Art erfordert es insbesondere nicht, daß sich der Bürger vorher mit seinem Anliegen an die zuständige Behörde wendet (so Ehlers, in; Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand; Mai 1997, Vorb. § 40 Rdnr. 82; Kopp, VwGO, 10. Aufl. [1994], Vorb. § 40 Rdnr. 32 b; Sodann/Ziekow, VwGO, 1. Aufl. [1996], § 42 Rdnr. 45; VGH Mannheim, NJW 1991, 2786 [2787]; OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10. 1997—2 S 610/97, S. 15; a. A. wohl Pietzcker, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, § 42 I Rdnr. 156; Eyermann/Fröhler, VwGO, 9. Aufl. [1997], § 42 Rdnr. 7; Hufen, VerwProzR, 2. Aufl. [1996], § 16 Rdnr. 21; VGH Mannheim, NVwZ 1991, 583, und NVwZ 1990, 892 [893]). Vielmehr kann der Bekl. dann, wenn er durch sein Verhalten keine Veranlassung zur Klage gegeben hat, den Anspruch sofort anerkennen mit der Folge, daß ein Anerkenntnisurteil gem. § 173 VwGO i. V. mit § 307 ZPO ergehen kann und dem Kl. die Prozeßkosten gem. § 156 VwGO zur Last fallen (Ehlers, Vorb. § 40 Rdnr. 82; OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10.1997— 2 S 610/97 unter Hinweis auf Kopp, Vorb. § 40 Rdnr. 32 b; vgl. grds. zur Zulässigkeit des Anerkenntnisurteils im Verwaltungsprozeß; BVerwG, NVwZ 1997, 576). Darüber hinaus besteht aufgrund der Erklärungen des Bekl. in der Öffentlichkeit und im Verfahren selbst kein Zweifel, daß es offensichtlich ohne Aussicht auf Erfolg geblieben wäre, wenn sich die Kl. bereits vor Beschreiten des Rechtsweges mit ihrem Anliegen an den Bekl. gewandt hätten. Unter diesen Umständen wäre es ein sachlich nicht zu rechtfertigender Formalismus gewesen, die Kl. zunächst auf den Verwaltungsweg zu verweisen (ebenso OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10. 1997 — 2 S 610/97).

6.

II. Die Klage ist auch begründet. Die Kl. können beanspruchen, daß es der Bekl. unterläßt, die Kl. zu 3 bis 5 nach der von der Kultusministerkonferenz beschlossenen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung zu unterrichten.

7.

Rechtsgrundlage für den Unterlassungsanspruch sind für die Kl. zu 3 bis 5 deren Grundrecht aus Art. 2 I GG, für die Kl. zu 1 und 2 deren Grundrechte aus Art. 6 II 1 GG. Grundrechte schützen den Bürger vor rechtswidrigen Beeinträchtigungen jedweder Art, auch solchen durch – hier in Frage stehendes – schlichtes Verwaltungshandeln; infolgedessen kann der Bürger im Falle einer solchen Beeinträchtigung gestützt auf das jeweilige berührte Grundrecht Unterlassung beanspruchen (BVerwGE 82, 76 [77 f.] = NJW 1989, 2272 m. w. Nachw.; krit. Hufen, § 27 Rdnrn. 4 u. 6; Anspruchsgrundlage § 1004 BGB analog).

8.

Der Unterricht nach den Regeln der Rechtschreibreform beeinträchtigt die Kl. rechtswidrig in ihren Grundrechten, weil der Bekl. nicht befugt war, die Berliner Schulen, darunter auch die B.-Grundschule, die die Kl. zu 3 bis 5 besuchen, durch als Verwaltungsvorschriften zu qualifizierende Rundschreiben der Schulaufsichtsbehörden anzuweisen, überholte Rechtschreibregelungen im Unterricht nicht mehr neu einzuführen und überholte Schreibweisen nicht mehr zu üben, sondern Rechtschreibunterricht auf der Basis der Neuregelung zu erteilen. Denn bei dieser Anweisung zur Einführung der Rechtschreibreform in den Berliner Schulen handelt es sich um eine für die Ausübung von Grundrechten der Kl. wesentliche Entscheidung, die – sofern insoweit eine Regelungsbefugnis überhaupt besteht – nicht allein auf Verwaltungsvorschriften gestützt werden kann.

9.

Schule ist allerdings prinzipiell eine staatliche Angelegenheit. Nach Art. 7 I GG steht das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates. Die damit von Verfassung wegen institutionalisierte Schulaufsicht umfaßt die Befugnis des Staates zur Planung und Organisation des Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Zu diesem staatlichen Gestaltungsbereich gehört nicht nur die organisatorische Gliederung der Schule, sondern auch die inhaltliche Festlegung der Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele, die Bestimmung des Unterrichtsstoffes (BVerfGE 34, 165 [182] = NJW 1973, 133; BVerwGE 64, 309 [313] = NJW 1982, 1410; st. Rspr.). Es ist daher grundsätzlich Sache des Staates und der für ihn handelnden Schulaufsichtsbehörden, darüber zu entscheiden, was den Schülern im Unterricht vermittelt wird.

10.

Dieser staatliche Erziehungsauftrag gilt indes nicht uneingeschränkt. Er wird zum einen begrenzt durch das aus Art. 2 I GG folgende Recht des einzelnen Kindes auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit seiner Anlagen und Befähigungen (BVerfGE 34, 165 [182] = NJW 1973, 133; BVerfGE 45, 401 [417] = NJW 1977, 1723), da Lernen und Erziehung eine notwendige Voraussetzung dafür sind, daß sich ein Kind in der Kultur, in der es heimisch ist, zurechtfinden sowie entfalten und in die Gesellschaft eingliedern kann. Zum anderen schränkt auch das in Art. 6 II 1 GG garantierte Elternrecht auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder die staatliche Schulaufsicht ein. Das Elternrecht ist wesentlich ein Recht im Interesse des Kindes und daher – hinsichtlich seiner Abgrenzung zu Art. 7 I GG – weitgehend inhaltsgleich mit dem Kindesrecht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung seiner Persönlichkeit (BVerfGE 53, 185 [203] = NJW 1980, 2403). Denn das Elternrecht unterscheidet sich von den anderen Freiheitsrechten des Grundrechtskatalogs grundlegend dadurch, daß es keine Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung der Eltern ist, sondern zum Schutze des Kindes gewährt ist (vgl. BVerfGE 59, 360 [387] = NJW 1982, 1375). Dieses elterliche Erziehungsrecht ist im Bereich des Schulwesens dem staatlichen Erziehungsauftrag gleichgeordnet; Eltern und Schule kommt eine gemeinsame Erziehungsaufgabe zu, die der Bildung einer Persönlichkeit des Kindes zum Ziel hat und in einem sinnvoll aufeinander bezogenen Zusammenwirken zu erfüllen ist (s. u. a. BVerfGE 34, 165 [183] = NJW 1973, 133).

11.

Da somit die vorgenannten Grundrechte mit dem staatlichen Erziehungsauftrag kollidieren können und die Grenzen zwischen dem staatlichen Erziehungsauftrag einerseits und dem Elternrecht sowie den Persönlichkeitsrechten des Kindes andererseits oft flüssig und nur schwer auszumachen sind, ist bereits die Markierung dieser Grenzen für die Ausübung der genannten Grundrechte vielfach von maßgebender Bedeutung; aus diesem Grunde verpflichten das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes den Gesetzgeber, die für diese Grenzziehung wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Schulverwaltung zu überlassen (BVerfGE 45, 401 [418] = NJW 1977, 1723; BVerfGE 47, 46 [79, 83] = NJW 1978, 807). Damit ist der Gesetzesvorbehalt insbesondere im Bereich des Schulwesens, in dem die Abgrenzungsmerkmale zwischen Eingriff und Begünstigung unentwirrbar ineinander übergehen (BVerfGE 41, 251 [259] = NJW 1976, 1309), von überholten Formeln (Eingriff in Freiheit und Eigentum) gelöst und von seiner demokratisch-rechtsstaatlichen Funktion her auf ein neues Fundament gestellt worden (BVerfGE 47, 46 [79] = NJW 1978, 807). Unabhängig davon, ob im Einzelfall ein Eingriff oder eine Begünstigung in Frage steht, muß der Gesetzgeber im grundrechtsrelevanten Bereich daher bereits die Grenze zwischen dem staatlichen Erziehungsauftrag einerseits und dem Elternrecht sowie den Persönlichkeitsrechten des Kindes andererseits selbst festlegen, sofern es sich um eine für die Ausübung dieser Grundrechte wesentliche Entscheidung handelt.

12.

Was in diesem Sinne im einzelnen als wesentlich – im Sinne von wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte (BVerfGE 45, 401 [418] = NJW 1977, 1723) – angesehen werden muß, ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht abschließend geklärt. Eine Entscheidung durch den Gesetzgeber wurde bisher in folgenden Fällen für notwendig erachtet: Festlegung der wesentlichen Merkmale einer als Pflichtschule eingeführten Förderstufe (BVerfGE 34, 165 [193] = NJW 1973, 133); Grundentscheidung für die Neuordnung der gymnasialen, Oberstufe (BVerfGE 45, 401 [419] = NJW 1977,1723); Maßnahme des Schulausschlusses, der zum Abbruch des Schulverhältnisses im Zweiten Bildungsweg (Speyer-Kolleg; BVerfGE 41, 251 = NJW 1976, 1309) bzw. im Gymnasium (BVerfGE 58, 257 [273] = NJW 1982, 921) führt; Entscheidung über die Einführung von Sexualerziehung in der Schule (BVerfGE 47, 46 [80, 81] = NJW 1978,. 807); Grundsätze zur Versetzung eines Schülers (BVerwGE 56, 155 [158] = NJW 1979, 229); Festlegung der Pflichtfremdsprache in der Orientierungsstufe (BVerwGE 64, 308 [313] = NJW 1982, 1410). Dieser Rechtsprechung können für den durch die Einführung der Rechtschreibreform allein betroffenen Bereich schulischer Lernziele, -inhalte und -methoden die folgenden Leitlinien entnommen werden (vgl. hierzu auch Niehues, Schul- und PrüfungsR, 2. Aufl. [1983], Rdnrn. 282 ff.): Die Regelungsbefugnis der Schulverwaltung greift zugunsten der pädagogischen Freiheit dort voll durch, wo es um pädagogische Fragen der Lehrmethoden geht (BVerfGE 47, 46 [73, 83] = NJW 1978, 807; BVerwGE 47, 194 [198] = NJW 1975, 1180). Dagegen unterliegen Entscheidungen, durch die grundlegende Bildungs- und Erziehungsziele (Groblernziele) neu bestimmt werden, dem Vorbehalt des Gesetzes (BVerfGE 47, 46 [83] = NJW 1978, 807; BVerwGE 47, 194 [198] = NJW 1975, 1180; BVerwGE 47, 201 [204] = NJW 1975, 1182; BVerwGE 57, 361 [363] = NJW 1979, 1616). Gefordert wird eine gesetzliche Leitentscheidung auch, wenn Schulinhalte gegenüber dem herkömmlichen staatlichen Bildungsangebot in ihren Grundzügen geändert werden sollen, oder bei Regelungen, die eine schul- und bildungspolitische Grundentscheidung von allgemeiner Bedeutung zum Inhalt haben (BVerwGE 64, 308 [313, 315] = NJW 1982, 1410). Gemeinsam ist diesen Fallgruppen, daß ein allgemeiner Konsens über bisherige Ziele und Gegenstände des Schulunterrichts, die mit ihm angestrebte Qualifikation oder über sonstige schulpolitische Grundfragen verlassen wird. Weil dadurch die Grenzen zwischen staatlichem Bildungsauftrag und Grundrechten von Schülern und Eltern neu abgesteckt werden, bedarf es – sofern eine staatliche Regelungsbefugnis überhaupt besteht – einer dies legitimierenden Entscheidung des hierzu allein berufenen Gesetzgebers (Urt. der Kammer v. 14. 2. 1997 – 3 A 1720/97 – gesetzliche Grundlage für die Abhaltung von Chemieunterricht in der Jahrgangsstufe 11. des Gymnasiums nicht erforderlich).

13.

Bei Anlegung dieser Maßstäbe erweist sich die Einführung der Rechtschreibreform in der Schule der Kl. zu 3 bis 5 als wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte der Kl., weil durch sie herkömmliche Lernziele und -inhalte in ihren Grundzügen verändert werden (ebenso u. a. OVG Lüneburg, NJW 1997, 3456, und OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10. 1997 – 25 610/97; wohl auch OVG Münster, Beschl. v. 11. 11. 1997 – 19 B 2435/97). Da der Rechtschreibung für sich gesehen eine grundlegende Bedeutung zukommt (nachfolgend 1), kann auch eine Veränderung des herkömmlichen Inhalts der Rechtschreibung eine wesentliche Entscheidung sein (nachfolgend 2). Dies ist hier der Fall, weil die Einführung der Rechtschreibreform mit einer Abkehr von bisherigen Grundsätzen, Zielen und Inhalten des traditionellen Rechtschreibunterrichts verbunden ist (nachfolgend 3) und ihr Umfang über eine marginale und deshalb möglicherweise verfassungsrechtlich unbeachtliche Modifikation von Rechtschreibregeln hinausgeht (nachfolgend 4).

14.

1. Die Rechtschreibung hat in unserer Gesellschaft eine weitreichende Bedeutung für die weitere Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit eines Kindes. Das Erlernen der Orthographie ist daher als ein grundlegendes Bildungsziel anzusehen (vgl. hierzu u. a. VG Wiesbaden, NJW 1997, 2399 [2401 f.]; VG Hannover, NJW 1997, 2538 [2539]; Kopke, Rechtschreibreform und VerfR, 1995, S. 184). Die Beherrschung der Schriftsprache ist wichtig für die sprachliche Verständigung, für den Erwerb von Wissen und Informationen, für den Zugang zum Beruf und für das Berufsleben (Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 20. 4. 1978, Sammlung der Beschlüsse der Kultusministerkonferenz, Gliederungsnr. 663, S. 1, zu 1). Im schulischen Bereich äußert sich dies darin, daß Deutsch das Kernstück des gesamten Unterrichts darstellt, d.h. die Rechtschreibung fächerübergreifend überall dort relevant ist, wo schriftliche Leistungen gefordert werden. Im Arbeitsleben ist die Kenntnis der richtigen Sprachschreibung Voraussetzung insbesondere für die Aufnahme aller derjenigen Berufe, in denen die Schriftsprache als Kommunikationsmedium dient. Darüber hinaus wird die Beherrschung der Rechtschreibung allgemein als ein Maßstab für Intelligenz angesehen, während mangelnde Rechtschreibkenntnisse Grundlage von Diskriminierungen sein können. Wegen der Bedeutung, die der Orthographie danach in unserer Gesellschaft zukommt, kann nicht der Ansicht gefolgt werden, daß Rechtschreibunterricht lediglich wertneutrale Vermittlung von Sachwissen ist (so aber VG München, Beschl. v. 9. 9. 1997 – M 3 E 97.4754; VG Weimar, Beschl. v. 24.7. 1997 – 2 E 1355197; VC Magdeburg, Beschl. v. 22. 9. 1997 – B 5K 785/97).

15.

2. Aus dieser grundlegenden Bedeutung der Rechtschreibung für die Entfaltungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler allgemein und der Kl. zu 3 bis 5 im besonderen folgt, daß auch die Veränderung der Grundsätze und des herkömmlichen Inhalts des Rechtschreibunterrichts eine wesentliche Entscheidung sein kann.

16.

Die Rechtschreibung, wie sie in der Schule bisher gelehrt wurde, beruht traditionell auf einem allgemeinen gesellschaftlichen Konsens. Die Veränderung der Schreibweise von Wörtern, der Trennungs- und Zeichensetzungsregeln, die auch in der Vergangenheit Wandlungen unterworfen waren, vollzog sich seit der erstmaligen Festschreibung der Schreibregeln im Jahre 1901 allein aufgrund von verändertem praktischem Sprachgebrauch. Danach überholte Regeln paßte die Redaktion des Wörterbuchs von Konrad Duden, das neben den 1901 festgelegten Schreibweisen und Regeln im Unterricht verbindlich ist (vgl. Beschluß der Kultusministerkonferenz v. 18./19. 11. 1955, Sammlung der Beschlüsse der Kultusministerkonferenz, Gliederungsnr. 661, S. 1), dem tatsächlichen Gebrauch an. Diese Entwicklung der Rechtschreibung zeigt, daß sie historisch gewachsen und primär das Ergebnis gesellschaftlicher Konvention ist (vgl. u. a. OVG Hamburg, Beschl. v. 16. 10. 1997 Bs III 71/97; OVG Lüneburg, NJW 1997, 3456 OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10. 1997 – 2 S 610/97 und OVG Münster, Beschl. v. 11. 11.1997 – 19 B 2435/97). Demgemäß wurden in der Gesellschaft akzeptierte und verbreitete Schreibweisen bisher als richtig bzw. gültig angesehen, so daß es dem herkömmlichen staatlichen Bildungsangebot entsprach, die Schülerinnen und Schüler mit dem jeweils herrschenden allgemeinen Schreibgebrauch vertraut zumachen. In Fortführung dieses herkömmlichen Lernziels würde es der staatliche Erziehungsauftrag daher ohne weiteres gestatten, in den Schulunterricht neue Rechtschreibregeln einzuführen, die sich in der Gesellschaft bereits praktisch durchgesetzt haben; gleiches gilt, sofern ein gesellschaftlicher Konsens über die inhaltlichen Regelungen der Rechtschreibreform in absehbarer Zeit mit Sicherheit erwartet werden könnte, da eine verantwortungsbewußte Schulerziehung eine entsprechende Zukunftsperspektive zu berücksichtigen hätte (vgl. OVG Schleswig, NJW 1997, 2536). Demgegenüber würde mit der Einführung einer von anerkannten Schreibregeln abweichenden gesonderten „Schülerrechtschreibung" der bisherige Konsens über Grundsätze, Ziele und Inhalt des Rechtschreibunterrichts verlassen; eine solche Entscheidung wäre wesentlich im vorgenannten Sinne, sofern die Neuregelungen wegen ihres Umfangs mehr als eine nur marginale Korrektur des bisherigen Regelwerks darstellen würden.

17.

3. So liegt der Fall hier. Denn mit der Rechtschreibreform werden nicht nachvollziehend Schreibregeln eingeführt, die sich bereits im Sprachraum durchgesetzt haben oder in der Gesellschaft allgemein anerkannt sind, sondern neue Regeln, von denen ungewiß ist, ob sie allgemeine Anerkennung erlangen. Hierzu ist im einzelnen auszuführen:

18.

Die Rechtschreibreform ist das Ergebnis von Beratungen der Kultusministerkonferenz, von Wissenschaftlern und Fachbeamten aller deutschsprachigen Länder über die vom Institut für deutsche Sprache in Mannheim erarbeiteten Vorschläge für eine Reform des orthographischen Regelwerks (Mitteilungen und Informationen der Kultusministerkonferenz, Sonderausgabe zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung v. 22. 7. 1996, S. 2). Die Kultusministerkonferenz hielt eine Bereinigung der Rechtschreibregeln wegen zu vieler Ausnahmen, Widersprüchlichkeiten, Unübersichtlichkeit usw. nach 100 Jahren für notwendig und verfolgt mit der Reform eine bessere Systematisierung der Regeln; aus schulischer Sicht zielt die Rechtschreibreform auf eine leichtere Erlernbarkeit und bessere Handhabbarkeit der Rechtschreibegeln für Schülerinnen und Schüler (Informationen des Sekretariats der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung vom 28. 8. 1997, S. 7). Damit erweist sich die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung als das Ergebnis wissenschaftlicher und pädagogischer Erkenntnisse über die Vereinfachung der deutschen Schriftsprache, nicht aber als Festschreibung eines sich in der Sprachgemeinschaft entwickelten Prozesses. Es kann somit keine Rede davon sein, daß die Schule mit den neuen Regelungen nachvollziehend eine Rechtschreibung vermittelt, die sich bereits in der Bevölkerung durchgesetzt hat. Im Gegenteil ist in der Gesellschaft derzeit die alte Schreibweise nahezu ausschließlich verbreitet. Aufgrund der anhaltenden Diskussion über einen Stopp der Reform oder eine Überarbeitung des neuen Regelwerks durch Bundestag und Landesparlamente, angesichts der in einigen Bundesländern angestrengten Verfahren über einen Volksentscheid zur Rechtschreibreform, wegen der in Konsequenz aus gerichtlichen Entscheidungen erfolgten Rücknahme der neuen Rechtschreibregeln im Bundesland Niedersachsen sowie schließlich nach der sich in den Medien ausdrückenden allgemein gegen die Reform bestehenden Kritik muß darüber hinaus davon ausgegangen werden, daß die neuen Rechtschreibregeln in der Bevölkerung derzeit keine hinreichende Akzeptanz finden (vgl. hierzu auch die Beiträge von Brill, Eroms, Hoberger, Piel und Scheuringer, in: Eroms/Munske [Hrsg.], Die Rechtschreibreform – Pro und Kontra, 1997,- S. 21 f., 51 f., 95 f., 165 f. und 197 f.).

19.

Ebensowenig ist gegenwärtig mit hinreichender Sicherheit zu erwarten, daß sich die neue Rechtschreibung zukünftig in der Allgemeinheit durchsetzen wird. Bei Würdigung der genannten Umstände lassen sich nämlich auch keine Anhaltspunkte für einen in der Allgemeinheit vorhandenen Konsens darüber feststellen, sich künftig an dem neuen Regelwerk zu orientieren. Hinsichtlich der insoweit anzustellenden Prognose ist das Gericht nicht auf eine eingeschränkte Nachprüfung einer Entscheidung des Bekl. beschränkt; denn die Schulverwaltung hat weder eine entsprechende Prognoseentscheidung getroffen noch war sie hierzu gesetzlich ermächtigt (a. A. offenbar OVG Schleswig, NJW 1997, 2536).

20.

Mit der Anweisung an die Schule, nunmehr die in der Rechtschreibreform niedergelegten neuen Schreibweisen und Regeln zu lehren, werden nach alledem die bisherigen Grundsätze und das traditionelle Ziel des Rechtschreibunterrichts, die Schülerinnen und Schüler mit dem im Sprachraum anerkannten Schreibgebrauch vertraut zu machen, teilweise aufgegeben und ins Gegenteil verkehrt. Indem die Schule allgemein anerkannte, gewachsene Rechtschreibung nicht mehr nachvollzieht, sondern eigene Rechtschreibregeln vermittelt, wird sie zur Initiatorin einer veränderten Rechtschreibung in der Allgemeinheit (vgl. OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10. 1997 – 2 S 610/97 und OVG Schleswig, NJW 1997,2536; VG Dresden, Beschl. v. 14. 8. 1997—5 K 2192/97). Denn dem bisher nur in den Schulen umgesetzten Regelwerk soll nach der Wiener Absichtserklärung, wonach auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hinzuwirken ist (Art. III Abs. 2), Vorbildcharakter für die Bevölkerung zukommen. Diese Abkehr von der bisherigen Tradition und eine Instrumentalisierung der Schule und Schüler zum Mittel der Sprachbeeinflussung stellt eine bildungs- und schulpolitische Grundentscheidung von allgemeiner Bedeutung dar, die – wenn überhaupt – nur durch eine Leitentscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, nicht aber durch die Schulverwaltung im Wege von Verwaltungsvorschriften getroffen werden kann (vgl. u. a. OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10. 1997 – 2 S 610/97).

21.

4. Die veränderten Schreibregeln beziehen sich auch nicht nur auf verfassungsrechtlich irrelevante Randbereiche der Rechtschreibung (so u. a. auch OVG Lüneburg, NJW 1997, 3456), wie sich aus den nachfolgend beispielhaft genannten Neuregelungen ergibt, die ihrerseits nur einen Teil der Rechtschreibreform bilden; sie sind der für die Schulen im Land Berlin herausgegebenen Informationsbroschüre der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung entnommen.

  • Neuschreibungen aufgrund eines sogenannten „Stammprinzips" (z. B. behände statt behende, belämmert statt belemmert, Gämse statt Gemse, Quäntchen statt Quentchen, schnäuzen statt schneuzen, Stängel statt Stengel, überschwänglich statt überschwenglich, verbläuen statt verbleuen, aufwändig statt aufwendig; nummerieren statt numerieren, platzieren statt plazieren, Tollpatsch statt Tolpatsch);

  • Schreibung des ß nur noch nach langem Vokal oder Diphtong (z. B. Hass statt Haß, Kuss statt Kuß, dass statt daß, muss statt muß);

  • Schreibungen dreier Konsonanten hintereinander bei Zusammensetzungen (z.B. Flanelllappen, Flusssand, Balletttänzer, Stofffetzen, aber weiterhin dennoch);

  • Bei der Endung -heit bleibt das vorausgehende h erhalten (z. B. Rohheit, Zähheit);

  • Zulässigkeit von Doppelschreibungen bei Endungen auf -tiell und -tial sowie bei Fremdwörtern (z. B. essenziell neben essentiell, Differenzial neben Differential, substanziell neben substantiell; Nessessär neben Necessaire, Fotometrie neben Photometrie, Jogurt neben Joghurt, Spagetti neben Spaghetti, Buklee neben Bouclé, Schikoree neben Chikorée, Katarr neben Katarrh, Fassette neben Facette, Panter neben Panther, Portmonee neben Portemonnaie);

  • Aufgabe der Unterscheidung von konkreter und übertragener Wortbedeutung für Getrennt- bzw. Zusammenschreibung (z. B. sitzen bleiben [in der Schule] statt sitzenbleiben, abwärts gehen [im Sinne von schlechter werden] statt abwärtsgehen);

  • Veränderungen in der Groß- und Kleinschreibung (z. B. in Bezug auf statt in bezug auf, Rad fahren statt radfahren, Schuld geben statt schuld geben, Pleite gehen statt pleite gehen, aber: pleite werden; im Großen und Ganzen statt im großen und ganzen, des Näheren statt des näheren, im Allgemeinen statt im allgemeinen, auf dem Trockenen sitzen (im übertragenen Sinne) statt auf dem trockenen sitzen, den Kürzeren ziehen (im übertragenen Sinne) statt den kürzeren ziehen; heute Mittag statt heute mittag, Groß und Klein statt groß und klein, Jung und Alt statt jung und alt);

  • Kleinschreibung von vertraulichen Anredepronomen (z. B. du, ihr, euch statt Du, Ihr, Euch);

  • unverbindliche Kommaregeln bei mit „und" und „oder" verbundenen Hauptsätzen und bei Infinitivsätzen (z.B. darf man schreiben: Sie begegnete ihrem Trainer(,) und dessen Mannschaft musste lange auf ihn warten. Ich rate(,) ihm(,) zu helfen.

  • Änderungen bei der Worttrennung (z. B. Wes-te statt We-ste, Muster statt Mu-ster, Zu-cker statt Zuk-ker, Ba-cke statt Bak-ke, U-fer statt Ufer, O-fen statt Ofen).

22.

Erweist sich nach alledem die Einführung der Rechtschreibreform in den Berliner Schulen, insbesondere in der B.-Grundschule, als eine für die Grenzziehung von staatlichem Erziehungsauftrag und Grundrechten der Kl. wesentliche Entscheidung, so durfte sie nicht durch die eingangs genannten Rundschreiben der Berliner Schulaufsichtsbehörden getroffen werden. Die daraus resultierende rechtswidrige Beeinträchtigung ihrer Grundrechte aus Art. 2 I GG bzw. Art. 6 II 1 GG braucht von den Kl. nicht hingenommen zu werden. Der Frage, ob die Kl. zu 3 bis 5 daneben einen Abwehranspruch gleichen Inhalts aus dem in Art. 20 I 1 BerlVerf. niedergelegten Recht auf Bildung herleiten können, muß nicht näher nachgegangen werden. Denn ein solcher Anspruch könnte wegen des gegenüber Landesverfassungsrecht höherrangigen (Art. 31 GG) bundesverfassungsrechtlichen Bildungsauftrages des Staates (Art. 7 I GG) nicht weiterreichen als der bereits erörterte Unterlassungsanspruch; auch auf eine nähere Inhaltsbestimmung des Grundrechts auf Bildung kann deshalb hier verzichtet werden.

23.

Es bedarf weiterhin keiner Entscheidung, ob der Staat überhaupt berechtigt ist, die Rechtschreibung durch eigene Regelungstätigkeit – sei es auch durch Gesetz – zu verändern, was in Rechtsprechung und Schrifttum mit unterschiedlichen rechtlichen Erwägungen verneint wird (OVG Hamburg, Beschl. v. 16. 10.1997 – OVG Bs III 71/97; OVG Lüneburg, NJW 1997, 3456 und OVG Bautzen, Beschl. v. 28. 10.1997—2 S 610/97;. Häberle, Rezension von Kopke, JZ 1996, 719 f.; Kirchhof, Deutsche Sprache, in: Isensee/Kirchhof, HdbStR I, 1987, S. 745 ff., 763 f.; Mahrenholz, Nicht der Staat verfügt über die Sprache, SZ v. 23./24. 8. 1997, S. 8; Löwer, RdJB 1997, 226; ansatzweise auch OVG Schleswig, NJW 1997, 2536).

24.

Schließlich kommt es nach der Rechtsauffassung der Kammer nicht darauf an, ob die Länder für die Rechtschreibreform zuständig waren oder ob insoweit eine (ungeschriebene) Bundeskompetenz besteht (vgl. dazu Kopke, S. 78 ff.; Löwer, S. 227 f.; Rollecke, NJW 1997, 2500 [2501] und ob – wie das OVG Lüneburg (NJW 1997, 3546) meint – die Einführung der Rechtschreibreform insoweit gegen den Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 30. 11./1. 12. 1995 verstieß, als es an einer dort vorausgesetzten Zustimmung der Bundesregierung fehlt und die Rechtschreibreform bereits vor ihrem Inkrafttreten (1. 8.1998) in den Berliner Schulen umgesetzt wurde.