Verwaltungsgericht Dresden
Beschluss vom 14.08.1997
- 5 K 2192/97
-

 (weitere Fundstellen: SächsVBl 1997, 241 f.)

 

 

Tatbestand

1.

Die Antragsteller wenden sich dagegen, daß der Antragsteller zu 1), der mit Beginn des Schuljahres 1997/1998 eingeschult wird, nach den neuen Rechtschreibregeln unterrichtet werden soll.

2.

Mit Verwaltungsvorschrift - VwV - des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus - SMK - vom 5. August 1996 (Amtsblatt des SMK vom 26. August 1996) setzte der Antragsgegner den Beschluß der Kultusministerkonferenz - KMK - vom 1. Dezember 1995 zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung um. Nach Ziffer 1.4 der VwV soll ab dem Schuljahr 1997/1998 die Einführung der Neuregelung in allen Schularten und Schulstufen erfolgen. Nach einer Übergangszeit vom 1. August 1997 bis zum 31. Juli 2005, während der die bisherige Schreibweise nicht als falsch, sondern als überholt gelten soll, ist für den Zeitpunkt ab dem 1. August 2005 bestimmt, daß nur noch die neuen Schreibweisen richtig sind (Ziffer 1.6 VwV).

3.

Die Antragsteller haben am 14. Juli 1997 Feststellungsklage vor dem Verwaltungsgericht Chemnitz erhoben (Az.: 2 K 1387/97) und zugleich Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gestellt (Az.: 2 K 1386/97).

4.

Mit Verweisungsbeschluß vom 6. August 1997 wurden beide Verfahren wegen örtlicher Unzuständigkeit an das Verwaltungsgericht Dresden verwiesen.

5.

Zur Begründung ihres Begehrens tragen die Antragsteller u.a. vor, es fehle für die Umsetzung der Rechtschreibreform an einer gesetzlichen Grundlage. Zwar sei ein gewisser Handlungsspielraum der Verwaltung sinnvoll, der Gesetzgeber müsse aber das Verfahren und die Grenzen hierfür festlegen. Der Gesetzgeber habe die wesentlichen Entscheidungen im Schulwesen selbst zu treffen. Hierzu gehöre die Art des Erlernens der Sprache als verbindliches Kommunikationsmittel. Das Thema betreffe die gesamte Bevölkerung und solle deswegen vom Parlament geklärt werden. Die Schüler würden durch den Zwang, ab dem Jahr 2005 die neue Rechtschreibweise zu benutzen, in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Zudem handele es sich um einen Eingriff in das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz - GG -, Art. 22 Abs. 3 Sächsische Verfassung - SächsVerf -, das zwar kein Recht auf bestimmte Unterrichtsinhalte gewährleiste, aber ein Abwehrrecht gegen staatliche Willkürakte sei. Die Elternschaft sei überdies nicht angehört worden. Es liege auch ein Verstoß gegen die Vorschriften des Schulgesetzes für den Freistaat Sachsen - SächsSchulG - vor, denn Teile der Regelungen der VwV wirkten sich auf die Bewertung von Prüfungsleistungen aus. Hierfür bedürfe es aber nach dem SächsSchulG einer Rechtsverordnung.

6.

Würde die Rechtschreibreform nicht ausgesetzt, käme das einer Vorwegnahme der Hauptsache gleich.

7.

Die Antragsteller beantragen,

im Wege der einstweiligen Anordnung zu bestimmen, daß die Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus vom 5. August 1996 (veröffentlicht im Amtsblatt des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus vom 26. August 1996) zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung bis zu einer endgültigen Entscheidung in der Hauptsache vom Vollzug ausgesetzt wird, und dem Antragsgegner aufzugeben, gegenüber dem Antragsteller zu 1) Unterricht nach Maßgabe der Verwaltungsvorschrift zur Durchführung der Rechtschreibreform zu unterlassen.

8.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

9.

Er vertritt die Auffassung, der Antrag sei bereits unzulässig, denn es mangele am Anordnungsgrund, d.h. der besonderen Eilbedürftigkeit. Die Antragsteller würden jetzt erst vorstellig, obgleich die streitgegenständliche VwV vom 5. August 1996 datiere und am 26. August 1996 im Amtsblatt des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus veröffentlicht worden sei. Wenn die Angelegenheit tatsächlich eilbedürftig wäre, dann habe der Antragsteller-Vertreter dies zu vertreten, denn er habe sich erst in einem sehr späten Stadium mit der Möglichkeit befaßt, den Rechtsweg zu beschreiten. Des weiteren hätten die Antragsteller es verabsäumt, vor der Inanspruchnahme des Gerichts ihr Anliegen der zuständigen Behörde vorzutragen. Bereits aus diesem Grund sei fraglich, ob überhaupt ein Rechtsschutzbedürfnis bestehe. Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung müsse zudem am Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache scheitern. Das setze voraus, daß den Antragstellern - neben hoher Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in der Hauptsache - bis zur Rechtskraft einer Entscheidung im Klageverfahren unzumutbare, irreversible Nachteile drohten. Davon könne keine Rede sein.

10.

Darüber hinaus sei auch kein Anordnungsanspruch gegeben. Die VwV vom 5. August 1996 sei ein Internum ohne Außenwirkung. Sie entfalte keine unmittelbare Rechtswirkung gegenüber den Antragstellern. Erst nach Ende der Übergangsfrist im Jahre 2005 sei es denkbar, daß die VwV vom 5. August 1996 für den Antragsteller zu 1) rechtliche Nachteile mit sich bringe. Die Umsetzung der Neuregelung der Rechtschreibung erfordere auch keine gesetzliche Grundlage, denn sie sei nicht als "wesentlich" im Sinne der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (etwa BVerfGE 58, 257, 268) anzusehen. Bei der Anwendung der Wesentlichkeitstheorie sei Zurückhaltung geboten (BVerfGE 47, 46/79; 56, 155/156). Entgegen der Auffassung der Antragsteller bedeute die Überarbeitung der Rechtschreibregeln nicht die Einführung wesentlicher Bildungs- und Erziehungsziele. Im Gegensatz zu Fragen des Religions- oder Sexualkundeunterrichts gehe es bei der Neuregelung der Rechtschreibung nicht um ein Spannungsfeld möglicherweise unterschiedlicher Wertauffassungen zwischen Eltern und Schule, dessen Ordnung in erhöhtem Maße parlamentarischer Legitimation bedürfe. Auch seien keine subjektiven Rechte der Antragsteller verletzt. Es bestehe kein Anspruch auf Beibehaltung bisheriger Unterrichtsmethoden. Auch liege kein Eingriff in den schulischen Lehr- und Lernprozeß vor. Es könne auch nicht von einem Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht gesprochen werden, denn es bestehe kein Bezug zu dem Kernbereich der Erziehung. Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sei nicht der geeignete Ort, um eine erschöpfende inhaltliche Diskussion über jede geänderte Rechtschreibregel zu führen. Die Fachdiskussion über die neuen Rechtschreibregeln werde seit über zehn Jahren geführt. Soweit bekannt, habe in keinem Land ein Landtag eine gesetzliche Regelung für erforderlich gehalten. Die Kommission für deutsche Rechtschreibung arbeite derzeit daran, Mißverständnisse bei der Auslegung der neuen Rechtschreibregeln kurzfristig zu beheben. Die Lehrer im Freistaat Sachsen orientierten sich an der vom Sächsischen Staatsministerium für Kultus herausgegebenen Amtlichen Regelung, die auch ein Wörterverzeichnis enthalte.

11.

Wegen der weiteren Einzelheiten das Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

 

Aus den Gründen:

12.

Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO hat Erfolg, da er zulässig und begründet ist.

13.

Der Antragsteller-Vertreter hat mit Schriftsatz vom 31. Juli 1997 seinen ursprünglichen Feststellungsantrag im Hauptsacheverfahren in einen Unterlassungsantrag umgestellt.

14.

Soweit er im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes seinen Antrag einerseits beibehält, andererseits zusätzlich beantragt, Unterricht nach Maßgabe der Verwaltungsvorschrift zur Durchführung der Rechtschreibreform zu unterlassen, ist der Antrag entsprechend dem Unterlassungsbegehren auszulegen. Denn es ergibt sich aus dem Begehren der Antragsteller in der Hauptsache, daß Klageziel die Unterlassung des Unterrichts gegenüber dem Antragsteller zu 1) nach Maßgabe der VwV vom 5. August 1996 sein soll. Nur danach kann sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung richten. Hierbei handelt es sich aber nicht um einen Verwaltungsakt - auch nicht in Form einer Allgemeinverfügung -, sondern um schlicht hoheitliches Handeln des Antragsgegners, so daß ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht statthaft wäre.

15.

Die Antragsteller sind auch gemäß § 42 Abs. 2 VwGO analog antragsbefugt. Bei dem Antragsteller zu 1) läßt sich nicht ausschließen, daß er durch die Neuregelung der Rechtschreibung in seinem Recht auf Bildung aus Art. 7 Abs.1 SächsVerf sowie in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 15 SächsVerf verletzt sein kann. Eine Verletzung des Elternrechts der Antragsteller zu 2) und 3) aus Art. 6 Abs. 2 GG, Art. 101 Abs. 2 SächsVerf ist ebenfalls denkbar.

16.

Dem Antrag kommt auch das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis zu.

17.

Die zu erwartende Rechtsbeeinträchtigung ist für die Antragsteller darin zu sehen, daß der Antragsteller zu 1) von dem 1. Schuljahr an künftig die Schreibweise nach der Rechtschreibreform zu lernen hat (vgl. Ziffern 1.4, 1.6, 2.2 VwV vom 5. August 1996). Ab dem 1. August 2005 ist die neue Schreibweise dann als allein richtige Schreibweise anzusehen. Die Antragsteller hätten mithin im Falle eines Obsiegens in der Hauptsache gleichwohl hinzunehmen, daß der Antragsteller zu 1) zunächst seine Schreibweise nach der Neuregelung der Rechtschreibung erlernt. Bis zu dem Zeitpunkt einer Entscheidung in der Hauptsache hätte sich für den Antragsteller zu 1) das Erlernte auch so manifestiert, daß ein Umlernen für ihn als Schüler der Grundschule, dessen erste Lernerfahrungen sich besonders nachhaltig einprägen, schlicht unzumutbar wäre. Hieraus ergibt sich zugleich auch das Interesse der Eltern des Antragsgegners, ihr Kind nicht mit einer solchen Situation konfrontiert zu sehen. Danach können die Antragsteller ihr Unterlassungsbegehren auf keine einfachere Weise als mit dem gestellten Antrag auf einstweilige Anordnung geltend machen.

18.

Der zulässige Antrag ist auch begründet.

19.

Nach der hier maßgeblichen Regelung des § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn - vor allem bei dauerhaften Rechtsverhältnissen - die Gefahr besteht, daß durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sogenannte Sicherungsanordnung). Dazu sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO der durch die einstweilige Anordnung zu schützende Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen.

20.

Die Antragsteller haben das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung glaubhaft gemacht.

21.

Der Antragsteller zu 1) hat einen Anordnungsanspruch.

22.

Durch die Verwaltungsvorschrift zur Einführung der Neuregelung der Rechtschreibung vom 05. August 1996 wird in das Recht des Antragstellers zu 1) auf Bildung aus Art. 7 Abs. 1 SächsVerf eingegriffen, denn er wird gezwungen, von Beginn seiner Einschulung an sich nach der neuen Rechtschreibung zu richten und in einer veränderten Weise zu schreiben, die nicht bereits mit einer schon weitenteils praktizierten Sprech- bzw. Schreibentwicklung in der Sprache korrespondiert. Hierdurch werden ihm das Erlernen der deutschen Schriftsprache und der Zugang zum Lesen überhaupt und zu deutscher Literatur erschwert: Sowohl seine Eltern als auch andere erwachsene Bezugspersonen benutzen die traditionelle Rechtschreibung. Viele Bücher (auch Kinderbücher und Zeitschriften) sind zudem noch in alter Rechtschreibung geschrieben. Wenn der Antragsteller zu 1) also seine in der Schule erworbenen Lese- und Schreibkenntnisse in der Praxis anwenden will, muß er sich ständig auf eine andere Schreibweise umstellen. Dieses Unterbleiben einer positiven Rückkopplung wirkt sich negativ auf den Lernprozeß aus und wird die bei einem Schulanfänger normalerweise gegebene hohe Lernmotivation hemmen. Ferner haben sich einzelne Autoren und Verlage gegen die Rechtschreibreform ausgesprochen und untersagt, daß ihre Literatur in der neuen deutschen Schreibweise gedruckt wird. Das hat zur Folge, daß im Deutschunterricht zwei deutsche Schriftsprachen bestehen (vgl. so auch VG Wiesbaden, Beschluß v. 28. Juli 1997, Gesch.-Nr.: 6 G 715/97 (1)) und die Schüler einen Teil der Gegenwartsliteratur als nicht ihrer Muttersprache zugehörig empfinden.

23.

Hierin liegt zugleich ein Eingriff in das in dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 15 SächsVerf enthaltene Recht auf sprachliche Integrität (vgl. Kopke NJW 1996, 1081/1082). Zu diesem zählt die Sprech- und Schreibfreiheit von Menschen, die die deutsche Sprache in der allgemein praktizierten Weise sprechen. Demnach umfaßt es auch das Recht zur Anpassung der Schriftsprache an den gegenwärtigen - und nicht den durch eine Neueinführung angestrebten - schriftlichen Sprachgebrauch.

24.

Diese Eingriffe bedürfen einer gesetzlichen Grundlage, da sie wesentlich sind (so auch Kopke, NJW 1996, 1081ff.; VG Wiesbaden, Beschluß v. 28. Juli 1997 a.a.O.; VG Hannover, Beschluß v. 07. August 1997, Az.: 6 B 4318/97).

25.

Im Schulrechtsverhältnis hat sich mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Dezember 1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 - sowie vom 20. Oktober 1981 - 1 BvR 640/80 (BVerfGE 47, 46/79; BVerfGE 58, 257/268) - die Wesentlichkeitstheorie entwickelt. Danach unterliegen Bildungs-, Lehr- und Lerninhalte dann dem Vorbehalt des Gesetzes, wenn sie als "wesentlich" anzusehen sind. Unter der Begrifflichkeit "wesentlich" ist dabei zu verstehen, daß die wirklich wichtigen Dinge in einem parlamentarisch-demokratischen Staatswesen vor das Parlament gehören (vgl. BVerfGE 47, 46/79).

26.

Bei der Abgrenzung im einzelnen ist große Behutsamkeit geboten und einer zu weitgehenden Vergesetzlichung vorzubeugen, die gerade für das Schulverhältnis mißliche Folgen haben könnte.

27.

Im hier maßgeblichen Grundrechtsbereich bedeutet "wesentlich": "Wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" (vgl. BVerfGE 34, 165/192; BVerfGE 47, 46/79). Eine gesetzliche Regelung für die Fortentwicklung der Bildungs- und Erziehungsziele in den herkömmlichen Bahnen ist nicht erforderlich. Anderes gilt aber dann, wenn der Unterrichtsinhalt aufgrund von Richtlinien gegenüber den herkömmlichen Unterrichtsfächern und Unterrichtszielen wesentlich neuartig ist (BVerwGE 47, 194/198; BVerwGE 47, 201/204).

28.

Aufgabe des Gesetzgebers ist die Festlegung von Schulinhalten jedenfalls insoweit, als sie in ihren Grundzügen gegenüber dem herkömmlichen staatlichen Bildungsangebot in wesentlichen Punkten geändert werden sollen (vgl. BVerwGE 64, 308/313). Ein Gesetzesvorbehalt besteht bei einer bildungs- und schulpolitischen Grundentscheidung von allgemeiner Bedeutung (BVerwGE 64, 308/315).

29.

Die Kammer ist nach Abwägung aller hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte zu der Überzeugung gelangt, daß die Einführung der Rechtschreibreform eine Entscheidung von bildungs- und schulpolitischer Grundsätzlichkeit darstellt und darüber hinaus von allgemeiner Bedeutung ist.

30.

Diese Auffassung begründet sich aus folgenden Überlegungen:

Bei der Neuregelung der Rechtschreibung handelt es sich nicht lediglich um eine Fortentwicklung der bisherigen Bildungsziele und Unterrichtsinhalte, sondern um eine Neueinführung. Die Schule paßt sich nicht einer mit Wirkung für die Zukunft normierten und allgemein zu erwartenden Rechtschreibänderung an (anders OVG Schleswig-Holstein, Beschluß vom 13. August 1997, Az.: 3 M 17/97); sie ist vielmehr deren faktische Initiatorin. Durch die zur Anwendung der neuen Rechtschreibregeln erzogenen Schüler werden die Änderungen in die Bevölkerung getragen, die sich dann den neuen Gegebenheiten anpassen soll.

31.

Die Neuregelung ist Ergebnis einer bisher weitestgehend in der linguistischen Wissenschaft geführten Diskussion über die Vereinfachung der deutschen Schriftsprache. Sie ist gerade nicht Manifestation eines Entwicklungsprozesses, der sich in der Schriftsprache über die Jahre entwickelt hat. Dabei erweisen sich die Änderungen sowohl der Schreibweise als auch der Interpunktion und der Trennungsregelungen als weitreichend, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht unbedingt erkennbar erscheint. Es bestehen bereits derzeit 8.000 Zweifelsfälle über die Anwendung der Neuregelung, mit der sich eine Expertenkommission zu beschäftigen haben wird. Dabei soll eine Wörterliste veröffentlicht werden, die den neuen Wörter- und Schulbüchern nachgereicht werden soll. Darin soll dann die künftige Rechtschreibung festgelegt werden (vgl. VG Wiesbaden, a.a.O. S 11; VG Hannover a.a.O. S. 10) Damit zeigt sich, daß die Neuregelung der Schriftsprache - die das VG Hannover mit Beschluß vom 07. August 1997 sehr plakativ, aber zutreffend beschrieben hat als "Reform am Reißbrett der Linguisten" - geschaffen worden ist (VG Hannover a.a.O. S. 10). Es kann deshalb nicht darauf ankommen, in welchem prozentual geringen Umfang sich die Schreibweisen ändern, ob sich etwa für den Antragsteller zu 1) in der 1. Klasse - wie der Antragsgegner vorträgt - nur die Schreibweise von zwei Wörtern ändern wird. Das ist ein lediglich formaler Gesichtspunkt, der der Tragweite der Auswirkungen der Rechtschreibreform nicht gerecht wird, zumal nicht nur die Anzahl der geänderten Wörter, sondern vor allem die Häufigkeit ihres Gebrauchs in der Schriftsprache zu beachten ist.

32.

Indes dürfte kaum zu bezweifeln sein, daß die Neuregelung weit über den schulischen Bereich hinausreichen und die Schreibweise der deutschen Sprache insgesamt verändern soll.

33.

Eine solche Zielsetzung läßt sich beispielsweise aus dem Vorwort des Sächsischen Staatsministers für Kultus, Dr. Matthias Rößler, in dem Heft Deutsche Rechtschreibung - Regeln und Wörterverzeichnis Amtliche Regelung - des Freistaates Sachsen entnehmen.

34.

Darin heißt es wörtlich: "Sachsen und Thüringen beginnen nun mit der Anwendung der neuen Regelung im Unterricht der 1. Klassen. Während die ganz Jungen in das Neue hineinwachsen, müssen sich die Älteren langsam daran gewöhnen." Auch der bayrische Kultusminister Zehetmair hat sich in diese Richtung geäußert, indem der gesagt hat, es gehe bei der Rechtschreibreform um einen Beschluß, der für viele Jahre regelt, wie das deutsche Volk schreibt (vgl. Kopke, NJW 1996, S. 1082). So schätzt das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht die Auswirkungen der neuen Rechtschreibweise in diesem Punkt ebenfalls ein. Im Beschluß vom 13. August 1997 heißt es hierzu: "Die Rechtschreibreform zielt nämlich nicht nur auf eine Änderung der Schreibweise im Unterricht und in der Amtssprache. Reformiert wird zum 01.08.1998 die Schreibweise der deutschen Sprache im deutschen Sprachraum überhaupt" (vgl. Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschluß vom 13. August 1997, Az.: 3 M 17/97).

35.

Die Neuregelung der Rechtschreibung beschränkt sich nicht auf den schulischen Bereich.

36.

Es läßt sich nicht vermeiden, daß auf die Allgemeinheit der deutsch schreibenden Bevölkerung auf die Dauer ein Anpassungsdruck ausgeübt wird. Zwar mag es sein, daß in einer Übergangszeit von mehreren Jahren beide Schreibweisen nebeneinander bestehen werden, langfristig wird aber die bisherige Schreibweise als "altmodisch und überkommen" gelten und durch die neue Schreibweise verdrängt (vgl. so auch VG Wiesbaden a.a.O. S. 11). Es läßt sich auch nicht ausschließen, daß nach nicht allzu langer Zeit die bisherige Schreibweise als falsch gilt und Menschen, die diese weiterhin benutzen, als nicht in der Lage angesehen werden, der deutschen Schriftsprache mächtig zu sein, sie gar als minder intelligent eingestuft werden (vgl. Kopke JZ 1995, 878). Nicht außer acht gelassen werden darf, daß ferner beabsichtigt ist, die neue Schreibweise auch als Amtssprache einzuführen (vgl. Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Schreiben an die Mitglieder der Kultusministerkonferenz, eingegangen bei dem SMK am 15. 1996; bestätigt wird dies im Schriftsatz des Antragsgegners vom 14. August 1997 S. 3; so auch wiedergegeben im Handelsblatt v. 06.03.1996).

37.

Insgesamt läßt sich sagen, daß das Sprachverhalten der Sprachgemeinschaft auf längere Sicht nicht davon unbeeinflußt bleiben wird, welche Schreibweisen in den Schulen gelehrt werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 21. Juni 1996 - 1 BvR 1057/96, NJW 1996, 2221/2222).

38.

Nach alledem wird deutlich, daß die Neuregelung der Rechtschreibung eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit ist, die weit über den schulischen Bereich hinausreicht. Veränderte Schreibweisen stellen gerade keine wertneutrale Vermittlung von Sachwissen dar, denn sie nehmen auch unmittelbar Einfluß auf das Lern- und Freizeitverhalten der Schüler, die nach der neuen Schreibweise unterrichtet werden. Diese werden selbstverständlich auch im außerschulischen Bereich das vermittelte Wissen, d.h. die veränderte Schreibweise anwenden. Dabei werden sie die Erfahrung machen, daß das ihnen gelehrte Wissen nicht kongruent ist mit der von weiten Teilen der Bevölkerung praktizierten Schreibweise oder auch der Literatur, die sie ansonsten lesen werden. Hierbei können sich insbesondere durch die veränderten Kommaregeln im Verhältnis der alten zu der neuen Schreibweise auch Sinnveränderungen ergeben, die zu Verständigungsschwierigkeiten führen. Die Schüler werden jedenfalls derzeit bei Einführung der neuen Regelung gezwungen sein, beide Schreibweisen zu verinnerlichen, weil sie ansonsten in Teilbereichen Kommunikationsschwierigkeiten haben werden (anderer Auffassung VG Mainz, Beschl. v. 03. August 1997, Az.: 7 1 14231/97.MZ).

39.

Angesichts dieses Einschnitts, den die Neuregelung der Rechtschreibung in den Schulen und über die Schulen hinaus verursacht, stellt sie eine bildungs- und schulpolitische Grundentscheidung dar und ist mithin wesentlich.

40.

Unabhängig hiervon dürfte die Einführung der Neuregelung auch wegen der erheblichen Kosten, die sie nach sich zieht, als wesentlich anzusehen sein.

41.

Die Neuregelung bedarf demnach eines sie legitimierenden Gesetzes.

42.

Auf eine gesetzliche Grundlage kann nicht deshalb verzichtet werden, weil Rechtschreibung im deutschen Sprachraum auf außerrechtlichen Regeln basiert, deren Geltung wie bei Naturgesetzen auf anderer als auf rechtlicher Grundlage beruht (anders Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschluß vom 13. August 1997, a.a.O.). Hier geht es nämlich gerade nicht um die Übernahme von Sprachänderungen, die sich außerrechtlich entwickelt haben. Bereits der Umstand, daß die Einführung der Rechtschreibreform im Schulwesen durch einen Regelungsakt (VwV) erfolgt ist, spricht gegen ihre Außerrechtsqualität.

43.

Der Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 1. Dezember 1995 ist kein Gesetz und kann auch ein solches nicht ersetzen.

44.

Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ist auch nicht von § 35 SächsSchulG gedeckt.

45.

Hiernach bilden Grundlage für Unterricht und Erziehung die Lehrpläne und die Stundentafeln, in denen Inhalt, Art und Umfang des Unterrichtsangebots einer Schulart festgelegt werden sowie sonstige Richtlinien. Sie werden vom Staatsministerium für Kultus erlassen.

46.

Die Einführung einer Neuregelung der Schreibweise geht über diesen Bereich hinaus.

47.

Nach alledem ergibt sich für den Antragsteller zu 1), daß die mit Verwaltungsvorschrift vom 5. August 1996 geregelte neue Schreibweise für sächsische Schulen einen Verstoß gegen sein Recht auf Bildung aus Art. 7 Abs. 1 SächsVerf und sein allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 15 SächsVerf darstellt, weil sie wesentlich ist und er diesen Eingriff mangels gesetzlicher Grundlage nicht hinzunehmen hat.

48.

Der Antragsteller zu 1) hat somit einen Anordnungsanspruch darauf, bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache nicht nach den neuen Rechtschreibregeln unterrichtet zu werden.

49.

Ein Anordnungsanspruch der Antragsteller zu 2) und 3) ist ebenfalls gegeben.

50.

Die Antragsteller zu 2) und 3) werden durch die Verwaltungsvorschrift vom 5. August 1996 zur Umsetzung der Neuregelung der deutschen Schriftsprache in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. Art. 101 Abs. 2 SächsVerf verletzt. Gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind Pflege und Erziehung das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvorderst obliegende Pflicht.

51.

Art. 101 Abs. 2 SächsVerf bestimmt, daß das natürliche Recht der Eltern, Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen, die Grundlage des Erziehungs- und Schulwesens bildet.

52.

Im Spannungsfeld hierzu befindet sich Art. 7 Abs. 1 GG, der das gesamte Schulwesen der Aufsicht des Staates unterstellt, was bedeutet, daß die Schulverwaltung ohne gesetzliche Grundlage zur Regelung des Schulwesens befugt ist (vgl. BVerfG, Vorlagebeschluß des VlI. Senats vom 15. November 1974 - BVerfG VII C 8.73).

53.

Die Schulaufsicht des Staates betrifft allerdings die Befugnis zur Planung und Organisation des Schulwesens, das zu gewährleisten hat, daß allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet werden. Der allgemeine Auftrag zur Bildung und Erziehung der Kinder steht dem Elternrecht nicht nach, sondern ist diesem gleichgeordnet.

54.

Im Bereich der Grundrechtsausübung hat der Gesetzgeber allerdings die der staatlichen Gestaltungsfreiheit offenliegende Rechtssphäre selbst abzugrenzen (vgl. BVerfG 20, 250/257; 34,165/192; 34, 65/192).

55.

Zwar räumt Art. 7 Abs. 1 GG den Trägern der Schulhoheit weitestgehende Gestaltungsfreiheit bei der inhaltlichen Festlegung der Unterrichts- und Erziehungsziele und der Bestimmung des Unterrichtsstoffes ein (vgl. BVerwGE 47, 194/198). Bei Maßnahmen, die zugleich den außerschulischen Bereich betreffen, hat allerdings das Elternrecht Vorrang vor dem staatlichen Erziehungsauftrag, so daß es bei Eingriffen hierin einer gesetzlichen Ermächtigung bedarf.

56.

Bei der Einführung der neuen Rechtschreibreform handelt es sich nicht nur um das Setzen von Lernzielen. Sie wirkt über den schulischen Bereich hinaus, denn die Sprache wird auch als Schriftsprache ständig im außerschulischen Bereich als wichtiges Kommunikationsmittel benutzt. Die Fähigkeit, sich schriftlich korrekt auszudrücken, spielt in der heutigen Kommunikationsgesellschaft eine bedeutende Rolle und erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Daher haben Eltern ein Recht darauf, daß ihren Kindern die in der Gesellschaft akzeptierte Schriftsprache vermittelt wird (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluß vom 11. August 1997, Az.: 4 L 2293/97).

57.

Der Antragsteller zu 1) wird gerade im Umgang mit seinen nächsten Bezugspersonen, seinen Eltern, mit der anderen Schriftsprache konfrontiert. Damit ist unmittelbar das Elternrecht berührt. Auch dieser Eingriff in das Elternrecht stellt, wie oben bereits dargelegt, einen wesentlichen Grundrechtseingriff dar, der mangels gesetzlicher Grundlage rechtswidrig ist.

58.

Dem Antrag mangelt es auch nicht an dem erforderlichen Anordnungsgrund. Mit Beginn des neuen Schuljahres würde der Antragsteller zu 1) die neue Rechtschreibung erlernen. Seine Unterrichtung nach der neuen Schreibform würde seinen Anspruch aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 15, Art. 7 SächsVerf sowie das Erziehungsrecht der Antragsteller zu 2) und 3) aus Art. 6 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 101 Abs. 2 SächsVerf vereiteln. Bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache hätte der Antragsteller zu 1) das neue Regelwerk erlernt und verinnerlicht, so daß der Prozeßerfolg zu spät käme. Es bestünde zudem die Gefahr, daß der Antragsteller zu 1) erneut umlernen müßte, wenn auf politischer Ebene von der Durchführung der Rechtschreibreform abgesehen würde (was z.Zt. nach der angekündigten Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des OVG Schleswig v. 13. August 1997, a.a.O., als durchaus offen anzusehen ist).

59.

Der Antragsgegnerin ist es hingegen zuzumuten, mit einer Unterrichtung nach den neuen Rechtschreibregeln abzuwarten, bis die Angelegenheit entweder einer juristischen und/oder politischen Lösung zugeführt worden ist.

60.

Der einstweilige Anordnungsantrag stellt auch keine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache dar. Bei dem geltend gemachten Unterlassungsanspruch kann es auf eine Vorwegnahme der Hauptsache der Natur der Sache nach nicht ankommen, denn es geht gerade darum, die Umsetzung der beabsichtigten Regelung bis zu einer Entscheidung der Hauptsache zu stornieren. Es ist auch nicht geboten, die Verwaltungsvorschrift für einen Übergangszeitraum gelten zu lassen. Denn nur dann, wenn sonst eine Funktionsunfähigkeit staatlicher Einrichtungen einträte, die der verfassungsmäßigen Ordnung ferner stünde als der bisherige Zustand, wäre an ein solches Vorgehen zu denken (vgl. BVerfGE 58, 257/280).

61.

Dies ist hier nicht der Fall.

62.

Nach alledem können die Antragsteller verlangen, daß der Antragsteller zu 1) mit seiner Einschulung in das neue Schuljahr 1997/1998 nach der alten Rechtschreibung, die auf Beschlüsse der staatlichen Orthographiekonferenz von 1901 zurückgeht und im Jahre 1955 von der Kultusministerkonferenz als bis heute verbindlich festgelegt worden ist, einstweilen bis zu einer Entscheidung des Hauptsacheverfahrens unterrichtet wird.

63.

Dem Antrag war mithin stattzugeben.

64.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

65.

Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 25 Abs. 2 S. 1, § 20 Abs. 3, § 13 Abs. 1 S. 2 GKG, wobei der Regelstreitwert zu halbieren war.