Verwaltungsgericht Karlsruhe
Urteil vom 16.07.1986
- 4 K 4/86
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 (weitere Fundstellen: KirchE 24, 182 ff.)

 

 

Zum Sachverhalt:

1.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, inwieweit das Zeitschlagen der Kirchturmuhr in B. zulässig ist. Bei der Klägerin (Stadt B.) sind im Jahre 1980 mehrere Beschwerden eines Anwohners, der gegenüber der Kirche wohnt, eingegangen. Mit seiner Beschwerde machte er geltend, das Glockenschlagen sei in der Nacht derart laut, daß er jede Nacht mehrmals aus dem Schlaf gerissen werde. Die Klägerin übersandte die Beschwerde dem Landratsamt; auf dessen Veranlassung führte das Gewerbeaufsichtsamt im Februar 1981 und November 1982 Lärmmessungen durch. Dabei wurde ein Beurteilungspegel von 61 dB(A) bzw. 64 dB(A) gemessen.

2.

Daraufhin verfügte das Landratsamt mit dem angefochtenen Bescheid, das Schlagwerk der Uhr im Kirchturm der Evangelischen Kirche zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr abzustellen. Gegen diese Verfügung legte die Klägerin Widerspruch ein. Nach Einholung eines Sachverständigengutachtens der Glockeninspektion des Erzbistums F. wurde mit dem Widerspruchsbescheid die Verfügung des Landratsamtes abgeändert und verfügt, das Schlagwerk der Turmuhr der Ev. Kirche in B. sei während der Zeit von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr so zu betreiben, daß beim nächstgelegenen Wohnhaus ein Immissionsrichtwert von 45 dB(A) nicht überschritten werde. In den Gründen wird ausgeführt, daß von dem Schlagwerk der Kirchturmuhr zur Nachtzeit schädliche Umwelteinwirkungen ausgingen, da die Richtwerte der VDI-Richtlinie 2058, wie die Lärmmessungen ergeben hätten, erheblich überschritten würden. Das Gutachten der Glockeninspektion des Erzbistums E habe ergeben, daß durch entsprechend technische Maßnahmen eine Reduzierung der Lautstärke des Schlagwerkes auf ein zulässiges Maß möglich sei.

3.

Mit ihrer Klage wendet sich die Klägerin gegen die Verfügungen des Landratsamtes und des Regierungspräsidiums. Zur Begründung führt sie aus, der Tenor des Bescheides des Regierungspräsidiums sei zu unbestimmt und somit nicht vollstreckbar. Es sei übersehen worden, daß nicht sie, sondern die Ev. Kirchengemeinde Eigentümerin des Turmes sei. Die Kirchengemeinde sei aber nicht bereit, Maßnahmen zur Lärmreduzierung am Turm vornehmen zu lassen. Im übrigen werde auch bestritten, daß die Lautstärke der Glocken ein Anlaß zum Einschreiten sei. Auch in der VDI-Richtlinie 2058 sei vorgesehen, daß die zulässigen Werte bis zu 20 dB(A) kurzzeitig überschritten werden können. Bei dem Glockengeläut handele es sich auch nicht um „schädliche Umwelteinwirkungen". Bei der Frage der Erheblichkeit von Geräuschen müsse die Ortüblichkeit berücksichtigt werden. Das Zeitschlagen der Uhr sei eine Jahrzehnte alte Gewohnheit und die überwiegende Mehrheit der Bürger von B. wünsche keine Änderung.

4.

Das Verwaltungsgericht hebt den Bescheid des Landratsamtes und den Widerspruchbescheid auf.

 

Aus den Gründen:

5.

Die Klage ist zulässig und begründet.

6.

Die Verfügung des Landratsamtes... in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ... ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

7.

1. Das Schlagwerk einer Kirchturmuhr fällt als „sonstige ortsfeste Einrichtung" unter den Begriff der „Anlage" i. S. der §§ 2, 3 Abs. 5 BImSchG (VG Augsburg, Urteil v. 31. 3. 1982, UPR 1982, 391). Als solche darf sie gem. § 22 Abs. 1 Ziff. 1 BImSchG nicht so betrieben werden, daß von ihr nach dem Stand der Technik vermeidbare Geräuschimmissionen ausgehen, die schädliche Umwelteinwirkungen darstellen, also nach Art, Ausmaß und Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen (§ 3 Abs. 1 BImSchG).

8.

Nach § 24 BImSchG können die zuständigen Behörden die zur Durchführung des § 22 BImSchG erforderlichen Anordnungen für den Einzelfall treffen. Das Einschreiten gegen die Betreiber nicht genehmigungsbedürftiger Anlagen ist nach dem Wortlaut des Gesetzes in das pflichtgemäße Ermessen der Behörden gestellt.

9.

2. Das Zeitschlagen der Kirchturmuhr verletzt nicht die durch § 22 BImSchG gezogene Grenze. Das Läuten beeinträchtigt nämlich nicht in einer Weise, die als erhebliche Belästigung i. S. von § 3 Abs. 1 BImSchG gewertet werden kann. Es fehlt somit an den gesetzlichen Voraussetzungen des behördlichen Einschreitens nach §§ 22, 24 BImSchG.

10.

2.1. Eine erhebliche Belästigung läge nur dann vor, wenn — bezogen auf das Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen, nicht auf die individuelle Einstellung eines besonders empfindlichen Nachbarn — das zumutbare Maß an Geräuschimmissionen überschritten würde (BVerwG, Urteil v. 7. 10. 1983, NJW 1984, 989; BVerwGE 50,49 [55]). Dies ist hier zu verneinen. Das beklagte Land leitet die Unzumutbarkeit der Geräuscheinwirkung allein aus dem Umstand ab, daß die Schläge der Kirchturmuhr nach den Ergebnissen der Lärmmessung 61 bzw. 64 dB(A) erreicht haben, während in Mischgebieten nach der VDI-Richtlinie 2058 nachts nur ein Wert von 45 dB(A) zulässig ist. Zwar bilden die TA-Lärm und die VDI-Richtlinie grundsätzlich geeignete Maßstäbe für die Feststellung unzumutbarer Lärmbelästigungen und zulässiger Grenzwerte. Die Immissionsrichtwerte dürfen jedoch nicht schematisch angewandt werden (BayVGH, Urteil v. 24. 9. 1984, BayVBl. 1985, 149). Vielmehr sind die besonderen tatsächlichen Verhältnisse im Einzelfall zu berücksichtigen.

11.

Zwar werden die Werte der VDI in der Tat überschritten. Auch wird man wohl wegen der Häufigkeit mit der die Zeitangabe erfolgt (alle Viertelstunde) nicht davon ausgehen können, daß es sich noch um eine „kurzzeitige Überschreitung" i. S. der Ziff. 3.3.1. der VDI-Richtlinie handelt. Bei der hier gegebenen besonderen Fallgestaltung muß aber berücksichtigt werden, daß es sich bei den Schlägen der Kirchturmuhr im Gegensatz zu Gewerbe-, Bau-, Verkehrs- oder Fluglärm nicht um ein typisches Störgeräusch handelt. Die in den Akten befindlichen Umfragen haben auch ergeben, daß sich die ganz überwiegende Mehrheit der Einwohner nicht durch das Schlagen der Kirchturmuhr gestört fühlt. Für sie stellt sich das Schlagen der Uhr als ein nicht unangenehmes, sich in regelmäßigen Zeitabständen wiederholendes, vertrautes Geräusch dar. Stellt man, wie von der Rechtsprechung gefordert, auf das Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen ab, so ist bereits aus diesem Grund eine erhebliche Belästigung zu verneinen. Hinzukommt, daß das Schlagen der Kirchturmuhr eine jahrzehntelange Tradition darstellt. Das Schlagwerk der Uhr wurde bereits vor dem Zweiten Weltkrieg betrieben. Man kann davon ausgehen, daß das Schlagen der Kirchturmuhr zum prägenden Charakter des Ortes B. gehört. In diesem Zusammenhang spielt es auch eine Rolle, daß sich bislang nur ein (hinzugezogener) Anwohner wegen der Störung der Nachtruhe beschwert hat. Wegen der Ortsüblichkeit der Geräuscheinwirkung durch den nächtlichen Stundenschlag der Kirchturmuhr ist davon auszugehen, daß es sich nicht — trotz rechnerischer Überschreitung des Nachtrichtwertes der VDI-Richtlinie 2058 — um eine schädliche Umwelteinwirkung handelt; die Geräuschimmissionen halten sich vielmehr im zumutbaren Rahmen und sind deshalb nicht erheblich i.S. von § 3 Abs. 1 BImSchG.