Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
Beschluss vom 30.9.1996
- 1 S 2531/96 -

(weitere Fundstellen: NVwZ-RR 1997, 225 ff.)

 

Gründe:

1.

Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die ihm am 4.7.1996 ausgehändigte Verfügung der Antragsgegnerin wiederhergestellt, soweit sie ein Betretungsverbot für im einzelnen näher bestimmte Verkehrsflächen enthält.

2.

Aufgrund der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen und allein möglichen summarischen Prüfung der Sachlage und Rechtslage, wie sie sich anhand der von den Beteiligten vorgelegten Unterlagen und ihres substantiierten Vorbringens darstellt, geht der Senat davon aus, daß Gegenstand des Beschwerdeverfahrens weder die im Amtsblatt der Antragsgegnerin vom 8.2.1996 veröffentlichte Allgemeinverfügung: "Polizeiliche Maßnahmen gegen die offene Drogenszene", noch die in den Behördenakten unter dem Datum vom 20.6.1996 enthaltene Allgemeinverfügung (Zweiter Platzverweis, Allgemeinverfügung) ist, sondern die vom Antragsteller im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (3 K 2876/96) vorgelegte Verfügung ohne Datum mit dem Empfangsbekenntnis vom 4.7.1996.

3.

Die genannte Verfügung richtet sich an "alle Personen, die sich in dem in der Anlage bezeichneten Bereich aufhalten und offensichtlich der Drogenszene zuzurechnen sind oder zu ihr Kontakt suchen". Weiterhin enthält sie den Vermerk "Zweiter Platzverweis" und unter der Überschrift "Allgemeinverfügung" folgende Regelungen:

1. Alle Personen, die der Drogenszene zuzurechnen sind, haben den Antreffort zu verlassen. Dieser sowie die übrigen in der Anlage aufgeführten Verkehrsflächen dürfen für die Dauer von drei Monaten nicht mehr betreten werden, sofern kein berechtigtes Interesse an einem Aufenthalt in einem der Bereiche nachgewiesen ist.

Bei erneutem Antreffen während der Laufzeit dieses Platzverweises in der Drogenszene beginnt die Frist von drei Monaten sowie die Rechtsbehelfsfrist neu zu laufen.

2. Die sofortige Vollziehung dieser Verfügung wird angeordnet."

4.

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts dürfte die von der Antragsgegnerin gewollte und auch erlassene Allgemeinverfügung nicht wegen fehlender Bestimmtheit des Adressatenkreises rechtswidrig sein. Eine Allgemeinverfügung ist ein Verwaltungsakt, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet (§ 35 S 2 Alt 1 LVwVfG). Die Antragsgegnerin bestimmt den von ihrer Verfügung betroffenen Personenkreis nach zwei Gesichtspunkten. Erfaßt sind alle Personen, die sich zum einen an im einzelnen konkret bezeichneten Orten aufhalten und zum anderen offensichtlich der Drogenszene zuzurechnen sind oder zu ihr Kontakt suchen. Der Begriff der "Drogenszene" seinerseits ist hinreichend bestimmt. Er erfaßt die Szene, in der Vergehen oder Ordnungswidrigkeiten gegen das Betäubungsmittelgesetz begangen werden. Eine Straftat gegen das Betäubungsmittelgesetz begeht ua eine Person, die mit Betäubungsmitteln unerlaubt Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in den Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft oder sie besitzt, ohne zugleich im Besitz einer schriftlichen Erlaubnis für den Erwerb zu sein (§ 29 Abs 1 Nr 1, Nr 3 Betäubungsmittelgesetz). Eine Person ist dieser Szene zuzurechnen, wenn sie eine oder mehrere der oben aufgeführten Handlungen begeht. Kontakt zur Drogenszene sucht, wie sich aus der Zweckbestimmung der Allgemeinverfügung ergibt, wer mit der Drogenszene in Verbindung zu treten beabsichtigt, weil er Drogen veräußern, abgeben, erwerben oder sich sonst verschaffen will. Die im Einzelfall möglicherweise schwierige Feststellung, ob eine Person, die an dem von der Allgemeinverfügung erfaßten Ort angetroffen wird, auch zur Drogenszene zu rechnen ist, wird dadurch erleichtert, daß nach der Allgemeinverfügung die Zugehörigkeit bzw die Kontaktaufnahme zur Szene "offensichtlich" sein muß. Damit dürfte der Adressatenkreis der Allgemeinverfügung hinreichend bestimmt bzw bestimmbar sein im Sinne des § 35 LVwVfG.

5.

Anders als das Verwaltungsgericht sieht der Senat auch keinen Anlaß zu der Annahme, durch die Aushändigung der von der Polizeibehörde erlassenen Allgemeinverfügung an eine von ihr erfaßte Person durch den Polizeivollzugsdienst sei eine nach dem Gesetz unzulässige Verschiebung der Zuständigkeit erfolgt. Entgegen dem vom Senat mit Beschluß vom 12.3.1996 (1 S 2856/95) entschiedenen Fall (vgl auch VG Sigmaringen, Beschluß vom 14.9.1994, VBlBW 1995, 289) erfolgt hier die Bestimmung des Adressaten durch die Polizeibehörde, indem sie den Adressatenkreis nach allgemein bestimmten Merkmalen umschreibt. Der Polizeivollzugsdienst dürfte insoweit lediglich Vollzugshilfe (§ 60 Abs 4 PolG) oder Amtshilfe (§ 74 Abs 1 PolG) leisten, indem er die Allgemeinverfügung durch Aushändigung bekannt gibt.

6.

Ebenso wie das Verwaltungsgericht sieht der Senat in der offenen Drogenszene eine polizeiliche Gefahr, die die Polizei grundsätzlich ermächtigt, auf der Grundlage der polizeilichen Generalklausel (§§ 1, 3 PolG) einzuschreiten und Polizeiverfügungen gegen die an der Drogenszene Beteiligten zu erlassen. Diese durch das Polizeigesetz eingeräumte Ermächtigung wird jedoch durch die angegriffene Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin überschritten. Dies ergibt sich aus folgendem:

7.

Die Polizei hat innerhalb der durch das Recht gesetzten Schranken zur Wahrnehmung ihrer Aufgabenzuständigkeit gem § 1 PolG diejenigen Maßnahmen zu treffen, die ihr nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlich erscheinen (§ 3 PolG), wobei selbstredend der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Demgemäß hat die Polizei bei Einzeleingriffsakten - neben anderem - zu prüfen, ob die Maßnahme geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im Sinne einer Mittelzweckrelation zur Bekämpfung der polizeilichen Gefahr ist. Welche Anforderungen an diese Einzelfallprüfung und die damit verbundene Ermessensausübung zu stellen sind, läßt sich nicht generell, sondern nur anhand des konkret zu beurteilenden Sachverhalts feststellen. Bei polizeilichen Allgemeinverfügungen, die sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richten, gelten grundsätzlich die gleichen Voraussetzungen. Auch hier ist erforderlich, daß begrenzt auf den bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis geprüft wird, ob die Maßnahme ermessensgerecht ist, insbesondere das eingesetzte Mittel nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Zweck steht.

8.

Im vorliegenden Fall enthält die angegriffene Verfügung der Antragsgegnerin für alle der Drogenszene offensichtlich zuzurechnenden oder zur ihr Kontakt suchenden Personen, die auf bestimmten Straßen oder Plätzen angetroffen werden, ein auf drei Monate befristetes Betretungsverbot für folgende Bereiche der Landeshauptstadt:

  • Königstraße vom Schloßplatz bis zur Thouretstraße sowie vom Wilhelmsbau bis zur Büchsenstraße einschließlich der Unterführung Königstraße/Marienstraße

  • Marienstraße

  • Kronprinzstraße einschließlich der dortigen Tiefgarage

  • Friedrichstraße im Bereich zwischen Fürsten- und Bolzstraße

  • Bolzstraße von der Friedrichstraße bis zur Königstraße

  • Keplerstraße einschließlich Unterführung

  • Fürstenstraße

  • Schloßplatz und Kleiner Schloßplatz einschließlich der dortigen Toilettenanlagen

  • Kienestraße zwischen Theodor-Heuss- und Stiftstraße

  • Büchsenstraße zwischen Theodor-Heuss- und Schulstraße einschließlich der Theodor-Heuss-Passage

  • Schulstraße

  • Lange Straße zwischen Theodor-Heuss-Straße und Neue Brücke

  • Gymnasiumstraße zwischen Theodor-Heuss-Straße und Königstraße

  • Alte Poststraße

  • Rotebühlplatz einschließlich der Einkaufspassagen und Haltestellenbereiche sowie der angrenzenden Grünanlagen

  • Parkhaus einschließlich der Notausgänge beim Treffpunkt Rotebühlplatz - Sophienstraße einschließlich Tiefgarage

  • Schmale Straße im Bereich zwischen Schulstraße und Neue Brücke - Obere Schloßgartenanlage

  • Stadtgarten einschließlich der ihn begrenzenden Straßen: Holzgartenstraße, Kriegsbergstraße zwischen Hegelplatz und Keplerstraße, Schelling-, Huber-, Kepler-, Willi-Bleicher-Straße, Breitscheidstraße zwischen Kienestraße und Stadtgarten

  • Zugangsbereiche zum Kultur- und Kongreßzentrum Liederhalle einschließlich Tiefgarage und zum Hoppenlaufriedhof.

9.

Dieses Betretensverbot und Aufenthaltsverbot, das in die allgemeine Handlungsfreiheit des von ihm betroffenen Personenkreises eingreift, trägt der Vielgestaltigkeit der Lebenssachverhalte nicht in dem aus den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der sachgerechten Ermessensausübung gebotenen Umfang Rechnung. Nach Inhalt, Ziel und Zweck der Allgemeinverfügung gilt das Aufenthaltsverbot unabhängig davon, zu welchem Zweck der Betroffene die inkriminierten Bereiche aufsucht oder aufsuchen will. Es erfaßt demnach mit anderen Worten auch Personen, die zwar der Drogenszene offensichtlich zuzurechnen sind, sich aber aus anderen Gründen, etwa zum Zwecke des Einkaufs oder des Besuchs eines Konzerts in der Liederhalle auf den im einzelnen näher bezeichneten oben aufgeführten Straßen und Plätzen aufhalten. Ebenso werden von der Verfügung der Antragsgegnerin zur Drogenszene gehörende Personen erfaßt, die in den genannten Straßen wohnen oder arbeiten und sich demnach dem Aufenthalt dort nicht entziehen können. Entgegen dem Vortrag der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren können derart Betroffene einem Platzverweis nicht dadurch ausweichen, daß sie die in der Allgemeinverfügung genannten Örtlichkeiten unter Drogenbezug meiden. Eine solche am Zweck des Aufenthalts orientierte Allgemeinverfügung hat die Antragsgegnerin gerade nicht erlassen. Darin unterscheidet sich auch der Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens etwa von der Festsetzung eines Sperrbezirks, in dem die Ausübung der Prostitution untersagt wird, den Prostituierten der Aufenthalt jedoch dort erlaubt ist, wenn sie nicht ihrem Gewerbe nachgehen.

10.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der erfordert, auf die berechtigten Interessen der Betroffenen Rücksicht zu nehmen, ist auch nicht dadurch gewahrt, daß die Begründung der angegriffenen Verfügung folgendes enthält:

"Ausnahmen vom Platzverweisverfahren sind nur möglich, wenn ein berechtigtes Interesse daran besteht, sich in einem der Bereiche aufzuhalten. Dies ist zB der Fall bei Terminen - beim Arzt, Rechtsanwalt, Sozialarbeiter sowie bei Behörden. Ein entsprechender Nachweis, der durch den Polizeivollzugsdienst überprüft werden kann, ist mitzuführen. In unvorhergesehenen dringenden Einzelfällen ist der Grund für die Ausnahme dem Polizeivollzugsdienst glaubhaft darzulegen."

11.

Zunächst ist unklar, wie dieser Teil der Begründung der Allgemeinverfügung zu verstehen ist. Wortlaut sowie Sinn und Zweck der Verfügung sprechen dafür, die "Ausnahme" dahin zu verstehen, daß das dreimonatige Aufenthaltsverbot grundsätzlich gilt und lediglich, wenn der Angetroffene die besonders genannten Gründe vorträgt und belegt, keine Verlängerung des Platzverweises hinzunehmen hat, wie dies Nr 1 S 3 der Verfügung bestimmt. Auch mit diesem Inhalt ist das Aufenthaltsverbot unverhältnismäßig, da es den weitere Sanktionen ausschließenden Aufenthalt auf einen zu eng umrissenen Tätigkeitsbereich eingrenzt, der lediglich Termine beim Arzt, Rechtsanwalt, Sozialarbeiter sowie bei Behörden erfaßt. Selbst wenn dies nur eine beispielhafte Aufzählung ist, so fallen ersichtlich Geschäfte des täglichen Lebens, wie etwa das Einkaufen, soziale Kontakte zu Freunden, Bekannten und Verwandten, die an den genannten Straßen und Plätzen wohnen, sowie die Teilnahme am kulturellen Leben nicht darunter.

12.

Der Senat verkennt nicht, daß an der Bekämpfung der offenen Drogenszene ein legitimes Interesse der Allgemeinheit besteht. Doch läßt sich dem durch den Erlaß einer Allgemeinverfügung der vorliegenden Art, die nahezu zwangsläufig der Vielgestaltigkeit der Fallgestaltungen keine Rechnung tragen kann, nicht in geeigneter Weise begegnen. Eine andere Möglichkeit, das Problem zu bewältigen, hat das Verwaltungsgericht mit der folgenden Überlegung

"Den Vorgaben des Polizeigesetzes dürfte es insgesamt wohl eher entsprechen, wenn der Polizeivollzugsdienst an polizeibekannten Drogenumschlagsplätzen aufgrund eigener Zuständigkeiten gem § 26 Abs 1 Nr 1 und 2 PolG Identitätsfeststellungen trifft, möglicherweise aufgrund eigener Eilzuständigkeit gem § 60 Abs 2 PolG Platzverweise ausspricht und die allgemeine Ortspolizeibehörde auf der Grundlage polizeilicher Antreffberichte so weitgehende Regelungen wie Aufenthaltsverbote nach konkreter Prüfung im Einzelfall, bei der anhand der Akten auch die individuelle Vorgeschichte des Betroffenen, wie etwa Verurteilung wegen Betäubungsmitteldelikten berücksichtigt werden können, selbst trifft."

aufgezeigt.

13.

Daß dieses Vorgehen weniger effizient sein soll, als das in der Vergangenheit geübte Einschreiten mit "Blanko-Verfügungen" (vgl nochmals VGH Bad-Württ, Beschluß vom 12.3.1996 - 1 S 2856/95) oder dem hier streitgegenständlichen Erlaß einer "Allgemeinverfügung" ist nicht erkennbar und gewährleistet im Einzelfall die Berücksichtigung der individuellen Interessen des Betroffenen an einem Aufenthalt auf Straßen und Plätzen in einem Großteil der Innenstadt der Landeshauptstadt.