Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg

Beschluss vom 28.8.1986

- 1 S 3241/85 -

(weitere Fundstellen: NVwZ 1987, 237 ff.)

Tatbestand

1.

Im Februar 1985 mietete der Kl., ein eingetragener Verein, im Hotel B. in X. einen Saal für eine geschlossene Vortragsveranstaltung am 10. 3. 1985. Als Veranstaltungsraum war der "Wintergarten" vorgesehen, der seine mit Fenstern versehene Längsfront zur L.-Straße hat. Der Vortrag war Teil einer Veranstaltungsreihe des Kl. in mehreren Städten des Bundesgebiets mit dem britischen Historiker I. zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Anfang März 1985 kündigten Vertreter politischer Vereinigungen Protestaktionen an. Darauf ordnete die Polizeidirektion X. polizeiliche Sicherungsmaßnahmen an. Durch an die Pächterin des Hotels gerichtete Verfügung vom 9. 3. 1985 ordnete die Polizeidirektion X. an, die vorgesehene Veranstaltung nicht im Wintergarten durchzuführen: Da massive Protestkundgebungen zu erwarten seien, sei das Verbot erforderlich, um körperliche Gefahren für die Teilnehmer der Vortragsveranstaltung durch Steinwürfe oder ähnliches abzuwehren. Die vorgesehene Veranstaltung fand in einem anderen Raum des Hotels statt. Die Fortsetzungs-Feststellungsklage war in beiden Instanzen erfolgreich.

Aus den Gründen:

2.

Polizeipflichtig waren weder der Kl. noch die Hotelpächterin, an die die Verfügung gerichtet war:

3.

Der Kl. kam als Verhaltensstörer (§ 6 PolG) nicht in Betracht, da ihm die Gefahr rechtswidriger Übergriffe Dritter aus Anlaß der angekündigten Gegendemonstration nicht als polizeiwidriges eigenes Verhalten zugerechnet werden kann. Anhaltspunkte dafür, daß er es objektiv oder subjektiv darauf angelegt hätte, mit seiner Veranstaltung rechtswidrige Übergriffe Dritter hervorzurufen ("Zweckveranlasser", vgl. dazu PrOVG, Urt. v. 10. 10. 1929, PrOVGE 85, 270; Drews / Wacke / Vogel / Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. S. 315 f.), bestehen nicht. Auch aus sonstigen Gründen läßt sich eine (Mit-)Verantwortlichkeit des Kl. als "Hintermann" der befürchteten Störung nicht herleiten, da der erforderliche Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen Art und regelmäßigem Ablauf der geplanten Veranstaltung sowie der durch sie verursachten Gegendemonstration nicht gegeben ist. Hinsichtlich seines eigenen Verhaltens fehlt es an einer Gefahr, die der Kl. im polizeirechtlichen Sinne verursacht hätte (zu dieser Voraussetzung näher Urt. d. Senats v. 7. 12. 1981. VBlBW 1982, 371 [372] m.w.Nachw.). Insoweit genügt der äquivalente Kausalzusammenhang zwischen der von ihm geplanten Vortragsveranstaltung und der Protestkundgebung nicht. Es bedarf vielmehr – hier wie sonst – einer wertenden Betrachtungsweise anhand der Maßstäbe der Rechtsordnung. Da die Rechtsordnung Veranstaltungen wie diejenige des Kl. nicht nur gestattet, sondern als Versammlung sogar unter grundrechtlichen Schutz stellt, kann er für die durch die Gegendemonstration hervorgerufenen Gefahren nicht verantwortlich gemacht werden.

4.

Aus entsprechenden Gründen scheidet eine Verantwortlichkeit der Hotelpächterin als möglicher Zustandsstörerin aus. Der Inhaber der tatsächlichen oder rechtlichen Gewalt haftet nach § 7 Po1G für den Zustand seiner Sache nur dann, wenn diese aufgrund ihrer Beschaffenheit oder räumlichen Lage im Blick auf die konkrete Gefahr polizeiwidrig ist, d.h. unmittelbar die Gefahrenquelle bildet (Urt. d. Senats v. 7. 12. 1981, aaO). Die von der Polizei angenommene Gefahr für Leib oder Leben der Veranstaltungsteilnehmer ging allenfalls von dem Verhalten der Gegendemonstranten, nicht hingegen davon aus, daß der dem Kl. vermietete Tagungsraum aufgrund seiner Beschaffenheit und Lage Angriffen von außen in besonderem Maße ausgesetzt war.

5.

Als Maßnahme gegen unbeteiligte Personen (§ 9 PolG) ist das Benutzungsverbot rechtlich zu beanstanden, weil im maßgeblichen Zeitpunkt zureichende Anhaltspunkte für eine unmittelbar bevorstehende Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die auf andere Weise nicht oder nur durch im Blick auf den beabsichtigten Erfolg offenkundig unverhältnismäßige Maßnahmen verhindert werden konnte, nicht erkennbar waren.

6.

Der Senat zweifelt bereits daran, daß bei Erlaß der angefochtenen Verfügung von einer unmittelbar bevorstehenden Störung ausgegangen werden durfte. Bei der Anwendung des § 9 Abs. 1 PolG sind, weil polizeiliche Notstandsmaßnahmen in die Rechte unbeteiligter Dritter eingreifen, an die zeitliche Nähe des Schadens ebenso wie an die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts strenge Anforderungen zu stellen. Allein die allgemeine Vermutung, es werde zu einer Störung der öffentlichen Sicherheit kommen, genügt nicht. Vielmehr bedarf es des Nachweises bestimmter, in den zeitlichen und örtlichen Verhältnissen begründeter Tatsachen, "die nicht nur die mehr oder weniger entfernte Möglichkeit einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit eröffnen, sondern eine solche Gefährdung absehbarerweise besorgen lassen" (PrOVG, Urt. v. 21.6. 1923, PrOVGE 78, 267 [271]; Urt. v. 27.9. 1923, PrOVGE 78, 272 [278] – Herrmannsschlacht –; s. auch württ.-bad. VGH, Beschl. v. 12. 11. 1953, ESVGH 3, 154 [155]; vgl. auch Reiff / Währle / Wolf; PolG, 3. Aufl., § 9 RdNr. 7; Drews / Wacke / Vogel / Martens, aaO, S. 332 f.; jew. m.w.Nachw.). Daran fehlt es:

7.

Durchgreifende Bedenken gegen die Annahme einer unmittelbar bevorstehenden Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bestehen deshalb, weil nach dem Inhalt der Akten keinerlei Erkenntnisse für die Erwartung der Polizei vorlagen, daß die angekündigte Gegendemonstration mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in allernächster Zeit zu dem Eintritt eines Schadens führen würde. Nach den der Polizei bekannten Erfahrungen aus Anlaß der Veranstaltungen der vom Kl. durchgeführten Vortragsreihe in anderen Städten des Bundesgebiets war allenfalls mit verbalen Auseinandersetzungen und Rangeleien zwischen Gegendemonstranten und Veranstaltungsteilnehmer zu rechnen. Auf welche konkreten Feststellungen die Polizei ihre Prognose stützte, daß durch Steinwürfe und ähnliche Gewaltakte Personen oder Sachen gefährdet würden, läßt sich den Akten nicht entnehmen. Unter diesen Umständen bestand im Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens am Vortag der geplanten Veranstaltung schon im Blick auf das Erfordernis der Aktualität der Störung kein hinreichender Grund, der das Vorgehen der Polizei gegen Nichtstörer hätte rechtfertigen können.

8.

Der Senat vermag ferner nicht zu erkennen, daß – eine unmittelbar bevorstehende Störung der öffentlichen Sicherheit unterstellt – die befürchtete externe Störung der Veranstaltung bei Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht auf andere Weise verhindert werden konnte. Daß die Gefahrenabwehr durch Einschreiten gegen die Gegendemonstranten als mutmaßliche Störer unmöglich gewesen wäre, behauptet auch der Bekl. nicht. Seiner die angefochtene Verfügung tragende Auffassung, durch Maßnahmen gegen die Störer wäre ein Schaden herbeigeführt worden, der erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg gestanden hätte, kann nicht gefolgt werden. Sie beruht auf der Erwägung, daß eine wirksame Gefahrenabwehr die weiträumige Abriegelung des Hotelbezirks einschließlich einer Sperrung der viel befahrenen Bundesstraße erfordert hätte. Diese Prämisse erweist sich indes aus der Sicht einer Beurteilung der Gefahrenlage im Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens (,‚ex ante") als offenbar unzutreffend. Es kann keine Rede davon sein, daß die Untersagung der Benutzung des Wintergartens die einzige verhältnismäßige Möglichkeit war, die erwartete Störung der öffentlichen Sicherheit zu vermeiden:

9.

Die angekündigte Gegendemonstration stellte eine anmeldepflichtige Versammlung (§ 14 VersG) dar. Unter der – vom Standpunkt des Bekl. aus ohne weiteres erfüllten – Voraussetzung, daß nach den erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit durch die Protestkundgebung unmittelbar gefährdet war, weil Ausschreitungen einzelner Gegendemonstranten gegen die Veranstaltung des Kl. nicht auszuschließen waren, waren in erster Linie der Erlaß von Auflagen wie etwa räumliche Beschränkungen, die Auflösung der Gegendemonstration oder auch – als ultima ratio – ein vorbeugendes Versammlungsverbot nebst Platzverweis in Betracht zu ziehen (§§ 15, 18 Abs. 1, 13 Abs. 2 VersG; s. dazu Urt. d. Senats v. 21.4. 1986, VBlBW 1986, 305 [306]). Auf diesem Wege gegen die (potentiellen) Störer einzuschreiten, war gegenüber einer Inanspruchnahme unbeteiligter Dritter vorrangig und zum Schutz der vom Kl. veranstalteten rechtmäßigen Versammlung geboten, um die Rechtsordnung zu wahren und die Grundrechtsausübung des Kl. zu gewährleisten. Denn Aufgabe der Polizei ist es zuvörderst, die Rechtsordnung und die in ihren Rechten bedrohten Bürger bestmöglich zu schützen und gegen rechtswidrige Übergriffe Dritter einzuschreiten (so schon PrOVG, Urt. v. 21. 6. 1923, PrOVGE 78, 267 [271]; Urt. v. 27.9.1923, PrOVGE 78, 272 [277]; ebenso VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10. 11. 1967, DÖV 1968, 179 [180 f.]; Reiff/ Wöhrle / Wolf; aaO, § 9 RdNr. 14; Drews / Wacke / Vogel / Martens, aaO, S. 334; vgl. auch Ossenbühl, DVBl. 1973, S. 289 [297 ]; jew. m.w.Nachw.).

10.

Maßnahmen der genannten Art gegen die Demonstranten hat der Bekl. offenbar nicht in Erwägung gezogen. Tatsächliche Anhaltspunkte für die Annahme, daß der Polizei ein Vorgehen gegen die für die befürchtete Störung Verantwortlichen von vornherein nicht erfolgversprechend erscheinen durfte, sind nicht ersichtlich. Es liegt auch nichts dafür vor, daß solche Maßnahmen einschließlich ihrer Durchsetzung unverhältnismäßig gewesen wäre. Namentlich hätten sie weder eine weiträumige Abriegelung des Hotelbezirks noch eine längerfristige Sperrung der Bundesstraße erfordert. Bei dieser Sachlage kam eine Inanspruchnahme der Nichtstörer jedenfalls nicht in Betracht, bevor Maßnahmen gegen die Veranstalter der beabsichtigten Gegendemonstration ergriffen sowie erforderlichenfalls vollstreckt waren und konkret erkennbar war, daß dadurch eine unmittelbar bevorstehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht verhindert werden konnte. Allein deshalb, weil mit Rechtsbruch oder Gegenwehr der Gegendemonstranten gerechnet werden mochte, durften polizeiliche Maßnahmen gegen sie als Störer nicht unterbleiben, denn dies würde die Rechtsordnung prinzipiell in Frage stellen.

11.

Fehl geht demgegenüber das Vorbringen des Bekl., die mit dem Benutzungsverbot einhergehende Einschränkung der Rechte des Kl. sei geringfügig, da er seine Veranstaltung in anderen Räumen hätte durchführen können. Es bedarf keiner Klärung, ob eine solche Ausweichmöglichkeit bestand. Denn für die Frage, ob gegen einen unbeteiligten Dritten eingeschritten werden darf, ist die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in seine Rechte ohne Belang, sofern die Voraussetzung, daß die Gefahr auf andere Weise – durch Maßnahmen gegen die Störer (§§ 6, 7 PolG) oder im Wege der unmittelbaren Ausführung (§ 8 PolG) – nicht oder nur unter Herbeiführung eines unverhältnismäßigen Schadens abgewehrt werden kann, nicht erfüllt ist. Erst wenn diese "absolute" rechtliche Sperre überwunden ist, ist für Verhältnismäßigkeitserwägungen mit Rücksicht auf die Rechtsposition des Nichtstörers Raum. Eine Abwägung zwischen der Intensität der Rechtsbeeinträchtigung des unbeteiligten Dritten und den Folgen eines Vorgehens gegen den Störer findet im Rahmen des § 9 Abs. 1 PolG nicht statt. Die nach dieser Vorschrift gebotene Prüfung der Verhältnismäßigkeit bezieht sich vielmehr allein auf die Relation zwischen dem Schaden, der durch Maßnahmen nach den §§ 6 - 8 Po1G herbeigeführt würde, und der bekämpften Gefahr oder Störung.