Bayerischer Verwaltungsgerichtshof

Beschluss vom 17.2.1995

- 21 CS 95.616 -

(weitere Fundstellen: BayVBl. 1995, 528 f.)

Aus den Gründen:

1.

Die Antragstellerin begehrt die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners, für von ihr in Pflegeeinrichtungen betreute Empfänger von Sozialhilfe die Kosten der Unterbringung vereinbarungsgemäß zu übernehmen.

2.

A) Die zulässige Beschwerde ist begründet.

3.

1. Der Verwaltungsgerichtshof geht zunächst davon aus, dass die Antragstellerin nur die Verpflichtung des Antragsgegners für die Zeit ab Erlass der Beschwerdeentscheidung begehrt. Für die Annahme, dass sie eine Verpflichtung auch für einen vor Erlass der Beschwerdeentscheidung liegenden Zeitraum will, bieten weder die Formulierung des Beschwerdeantrags noch die Beschwerdebegründung ausreichende Anhaltspunkte. Für zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts abgelaufene Zeiträume fehlte es nach der ständigen Rechtsprechung des Senats auch am Anordnungsgrund. Der Verwaltungsgerichtshof legt den Beschwerdehauptantrag unter Berücksichtigung der Beschwerdebegründung vom 20. August 2004 sachgerecht dahin aus, dass es der Antragstellerin um die Verpflichtung des Antragsgegners geht, bei der Gewährung von Sozialhilfeleistungen an Hilfeempfänger, die in ihren Einrichtungen untergebracht sind, die Leistungen gemäß den Vergütungsvereinbarungen vom 22. Oktober 2003 abzurechnen.

4.

2. Der so verstandene Hauptantrag ist begründet. Die Antragstellerin hat insoweit sowohl einen Anordnungsgrund (nachfolgend unter Buchst. a) als auch einen Anordnungsanspruch (nachfolgend unter Buchst. b) glaubhaft gemacht.

5.

a) Die Sache ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats dringlich. Ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung erlitte die Antragstellerin einen erheblichen Nachteil. Es ist ihr nicht zumutbar, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Hintergrund der Neuregelung des Leistungserbringungsrechts des Abschnittes 7 des Bundessozialhilfegesetzes war die Kostenentwicklung insbesondere in den Einrichtungen für stationäre Leistungen. Ziel der Neuregelung war in erster Linie die Kostendämpfung und damit die Konsolidierung der Haushalte der Sozialhilfeträger. Dabei orientierte sich der Gesetzgeber an Entwicklungen in anderen Sozialleistungsbereichen, vornehmlich auch am SGB XI. Der Gesetzgeber hat versucht, seine Intention mit verschiedenen Instrumenten durchzusetzen; so müssen z.B. auch die zwischen der Antragstellerin und dem Antragsgegner gemäß § 93 ff. BSHG geschlossenen Vergütungs-, Leistungs- und Prüfungsvereinbarungen den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Leistungsfähigkeit entsprechen (§ 93 Abs. 2 Satz 2 BSHG). Der Senat geht deshalb davon aus, dass stationäre Einrichtungen, die mit dem Sozialhilfeträger Vergütungsvereinbarungen abgeschlossen haben, keinen nennenswerten finanziellen Spielraum haben. Mag die vom Antragsgegner seit 1. April 2004 vorgenommene Kürzung der täglichen Gesamtentgelte um 5 vom Hundert auch nicht sofort zu wesentlichen wirtschaftlichen Nachteilen der Antragstellerin führen, so ist mit Blick auf die Laufzeit der Vergütungsvereinbarungen doch eine Gefährdung der Existenz der Antragstellerin nicht auszuschließen. Dabei ist insbesondere noch zu berücksichtigen, dass gemäß § 93 b Abs. 2 Satz 4 BSHG nach Ablauf des Vereinbarungszeitraums die vereinbarten oder festgesetzten Vergütungen bis zum Inkrafttreten neuer Vereinbarungen weiter gelten und der Antragsgegner in seinem Schreiben an die Antragstellerin vom 15. April 2004 festgestellt hat, dass er die Kürzung bis zunächst 31. Dezember 2004 vornehmen werde. Die Antragstellerin kann die heimvertraglich geschuldeten Leistungen nicht kürzen. Sie muss Personal, Mieten u.ä. bezahlen. Sie insoweit auf die Aufnahme eines Darlehens zu verweisen, würde der hohen faktischen Bedeutung der Entgeltvereinbarung für die Existenz einer Einrichtung nicht gerecht. Die "Dringlichkeit" scheitert auch nicht daran, dass der Antragstellerin in Höhe der Kürzungen Zahlungsansprüche gegen die Hilfeempfänger zustehen, weil diese insoweit ihre gegenüber der Antragstellerin aus den - privatrechtlichen - Heimverträgen resultierenden Verpflichtungen nicht erfüllen. Es liegt auf der Hand, dass der Antragstellerin nicht zugemutet werden kann, eine Vielzahl offensichtlich erfolgloser Klage- und Eilverfahren gegen ihre Sozialhilfeleistungen erhaltenden Heimbewohner zu führen.

6.

b) Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Es ist überwiegend wahrscheinlich (§ 23 Abs. 1 Satz 2 SGB X), dass sie vom Antragsgegner die Übernahme der Kosten der Unterbringung gemäß den Vergütungsvereinbarungen vom 22. Oktober 2003 in den Fällen verlangen kann, in denen der Antragsgegner Sozialhilfeleistungen an in ihren Einrichtungen untergebrachte Hilfeempfänger gewährt. Der Antragsgegner muss sich an die abgeschlossenen Pflegesatzvereinbarungen halten, und zwar auch nach Ablauf des Pflegesatzzeitraums bis zum Inkrafttreten neuer Pflegesätze (§ 85 Abs. 6 Satz 3 SGB XI) und nach Ablauf des Vereinbarungszeitraums bis zum Inkrafttreten neuer Vergütungen (§ 93 b Abs. 2 Satz 4 BSHG). Das ergibt sich aus Folgendem:

7.

aa) Sowohl die Pflegesatzvereinbarung nach § 85 SGB XI als auch die Vergütungsvereinbarung nach § 93 Abs. 2 BSHG sind koordinationsrechtliche öffentlich-rechtliche Verträge im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB X zwischen dem Sozialhilfeträger und dem Heimträger (BayVGH vom 19.2.2004 12 B 02.1520; Vogel/Schmäing in LPK-SGB XI, 2. Aufl. 2003, RdNr. 5 zu § 85; Münder in LPK-BSHG, 6. Aufl. 2003, RdNr. 31 zu § 93 jeweils unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts). Die Vertragsparteien, die Antragstellerin und der Antragsgegner, stehen sich also gleichrangig und gleichberechtigt gegenüber. Die Vertragspartner des öffentlich-rechtlichen Vertrags sind grundsätzlich an die abgeschlossene Vereinbarung entsprechend dem allgemeinen Rechtsgrundsatz "pacta sunt servanda" gebunden (vgl. Engelmann in von Wulffen, SGB X, 4. Aufl. 2001, RdNr. 2 zu § 59, RdNr. 4 a zu § 61; Giese/Krahmer, SGB X, Stand: Juli 2004, RdNr. 2 zu § 59). Die Regelung des § 59 SGB X über Anpassung und Kündigung des öffentlich-rechtlichen Vertrages folgt dem Motiv des Gesetzgebers, auch den öffentlich-rechtlichen Vertrag grundsätzlich dem Einhaltungsgebot zu unterstellen und eine einseitige Lösung von Vertragspflichten grundsätzlich auszuschließen (BT-Drs. 7/910, S. 82 f.). Danach muss sich der Antragsgegner für den laufenden Pflegesatzzeitraum und nach dessen Ablauf bis zum Abschluss neuer Vereinbarungen über die Höhe der Pflegesätze bzw. der Vergütungen an die Vereinbarungen vom 22. Oktober 2003 halten. Das bedeutet, dass er die Kosten der Unterbringung von Hilfeempfängern, für die er Sozialhilfeleistungen gewährt, gemäß den in den genannten Vereinbarungen festgesetzten Vergütungen übernehmen muss. Diese vertragliche Verpflichtung besteht gegenüber der Antragstellerin und neben seiner Verpflichtung gegenüber den Hilfeempfängern, diesen gemäß den Gesetzen Sozialhilfeleistungen zu gewähren. Der Antragsgegner kann sich von seinen diesbezüglichen Vertragspflichten nicht einseitig lösen, indem er die vereinbarten täglichen Gesamtentgelte um 5 vom Hundert kürzt. Von der in besonderen Ausnahmefällen eröffneten Möglichkeit, sich vom Vertrag zu lösen, hat er keinen Gebrauch gemacht. Er hat für den Pflegesatzzeitraum und die Zeit danach keine neuen Verhandlungen wegen unvorhersehbarer wesentlicher Veränderungen der Annahmen nach § 85 Abs. 7 SGB XI bzw. nach § 93 b Abs. 3 Satz 1 BSHG verlangt. Nach Ablauf des Pflegesatzzeitraumes gelten die vereinbarten oder festgesetzten Pflegesätze bzw. die vereinbarten oder festgesetzten Vergütungen bis zum Inkrafttreten neuer Pflegesätze bzw. neuer Vergütungen weiter (§ 85 Abs. 6 Satz 3 SGB V, § 93 b Abs. 2 Satz 4 BSHG). Auch eine Anpassung und Kündigung nach § 59 Abs. 1 Satz 1 SGB X hat er für den laufenden und bis zum Inkrafttreten neuer Pflegesätze weiter geltenden Pflegesatzzeitraum nicht verlangt. Mag der Antragsgegner für die Kürzung Nachteile für das Gemeinwohl ins Feld führen können, so hat er doch eine Kündigung der fraglichen Vereinbarungen nach § 59 Abs. 1 Satz 2 SGB X nicht ausgesprochen. Der schwierigen finanziellen Situation des Antragsgegners kann somit allenfalls bei den Verhandlungen für den neuen Pflegesatzzeitraum Rechnung getragen werden.

8.

bb) Entgegen der Auffassung des Antragsgegners macht die Antragstellerin somit nicht den sozialhilferechtlichen Anspruch des Hilfeempfängers gegen den Sozialhilfeträger, sondern ihren eigenen Anspruch aus den Vereinbarungen geltend. Die oben genannten Vereinbarungen haben regelmäßig den Sinn, dass die gegenüber dem Hilfeempfänger durch Verwaltungsakt getroffene Regelung auch auf den Heimträger ausgedehnt wird. Da der Heimträger aus dem Verwaltungsakt, nach dem die Leistung unmittelbar an ihn erfolgen soll, keine eigenen Ansprüche herleiten kann, sollen ihm diese durch Vertrag verschafft werden (vgl. VGH BW vom 23.11.1988 Juris Nr. MWRE 100678921).

9.

cc) Nach alledem kommt es – auch wegen der sachgerechten Auslegung des Beschwerdeantrags durch den Senat – nicht darauf an, ob die zwischen der Antragstellerin und dem Antragsgegner geschlossenen Vereinbarungen einen Anspruch der Antragstellerin auf Zahlung der Sozialhilfeleistungen an sie begründen. Der Senat ist allerdings mit dem Verwaltungsgericht der Auffassung, dass das nicht der Fall ist. Er nimmt insoweit auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Beschluss Bezug (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Literatur begründen Pflegesatzvereinbarungen jedenfalls dann keine solchen Zahlungsansprüche im Einzelfall, wenn ihnen kein diesbezüglicher Rechtsbindungswillen zu entnehmen ist (vgl. BVerwG vom 30.9.1993 BVerwGE 94, 202 = FEVS 44, 353; BayVGH vom 22.7.2003 12 ZB 02.3283; OVG Münster Urteil vom 8.12.1994 FEVS 46, 77; OVG Bbg vom 27.1.2000 und vom 27.11.2002 FEVS 51, 555 und FEVS 54, 451; Münder, a.a.O., RdNr. 33 zu § 93).