Bayerischer Verwaltungsgerichtshof
Urteil vom 14.10.1985
- Nr.14 B 85 A.1224
-

(weitere Fundstellen: BayVBl. 1986, S. 143 ff.)

Leitsätze:

1.

Ein Bauherr kann abstandsflächenrechtlich zwar frei wählen, an welche Nachbargrundstück er auf seinem (Buch-) Grundstück zwei Außenwände von nicht mehr als je 16 m Länge bis auf die Hälfte der nach Art. 6 Abs. 4 BayBO erforderlichen Tiefe heranrückt. Dieses Wahlrecht besteht jedoch nur im Rahmen des Art. 6 Abs. 5 BayBO. Sofern für dasselbe Gebäude mehr als zwei derartige Außenwände vorgesehen sind, beurteilt sich das Vorhaben ausschließlich nach Art. 6 Abs. 4 BayBO.

2.

Unbeschadet dessen, inwieweit Art. 6 Abs. 5 BayBO gegliederte Außenwände zulässt, gestattet diese Vorschrift jedenfalls nicht, auf einem (Buch-) Grundstück aneinandergebaute Gebäude zu errichten, die vor einer Gebäudefront auf eine Länge von mehr als 16 m das verkürtze Tiefenmaß einhalten.

3.

Die Vorschriften der neuen Bayer. Bauordnung über die Einhaltung von Abstandsflächen dienen in ihrer Gesamtheit auch dem Nachbarschutz.

   

Zum Sachverhalt:

4.

Der Kläger, dem das Grundstück FlNr. 885 der Gemarkung H. gehört, wendet sich gegen die Baugenehmigung, die das Landratsamt E. unter dem 31.10.1983 dem Beigeladenen zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses auf dem östlich angrenzenden Grundstück  FlNr. 884 (Baugrundstück) erteilt hat.

5.

Nach den zugrundeliegenden Bauvorlagen handelt es sich um einen sich in Nord-Süd-Richtung erstreckenden Gebäudekomplex (Länge 32,41 m) in der Form eines Doppel-T. Die beiden Seitenflügel (Firstrichtung jeweils West-Ost) sind durch einen Mittelbau verbunden, der gegenüber den nördlich und südlich anschließenden Seitenflügeln nach Westen um 2,65 m bzw. 2,15 m, nach Osten um 5,72 m bzw. 5,97 m zurückversetzt ist. Der nördliche Seitenflügel und der südliche Seitenflügel mit dem Mittelbau bilden jeweils ein selbständig benutzbares Gebäude. Die beiden Seitenflügel sind giebelseitig unter Einbeziehung überdeckter Terrassenteile, Balkone und Loggien vertikal gegliedert. Der nördliche Seitenflügel ist 12,33 m breit und bis zu 17,43 m lang; die entsprechenden Maße für den südlichen Seitenflügel betragen 12,33 m und 17,01 m. In den Grundrissen des Erd- und des Obergeschosses sind Teile der östlichen Außenwand des nördlichen Seitenflügels von 5,03 m und 5,64 m Breite sowie der östlichen Außenwand des südlich anschließenden Gebäudes (Außenwandteile des südlichen Seitenflügels) von 5,58 m Breite vom Landratsamt mit dem Zusatz versehen: "Summe max. 16,0 m".

6.

Die Wandhöhe der beiden Seitenflügel beträgt - gemessen ab der festgelegten Geländeoberfläche bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut - jeweils 6 m. Die Höhe der beiden Dächer (bzw. der Giebelflächen im Bereich der beiden Dächer) bemisst sich bei einer Dachneigung von 48 Grad - gemessen ab Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut - nach dem "Schnitt Wohnhaus II" auf jeweils 7,35 m, nach der Bauzeichnung "Abstandsflächen und Höhenschnitte" hingegen auf jeweils 6,90 m. Der Mittelbau hat eine Wandhöhe von ebenfalls  6 m, die Dachhöhe beträgt hier 5,5 m bei einer Dachneigung von wiederum 48 Grad.

7.

Der Mittelbau wahrt auf dem Baugrundstück nach Osten eine 10,6 m tiefe und nach Westen eine 8,5 m tiefe Abstandsfläche. Sofern die einbezogenen Terrassenteile, Balkone und Loggien außer Betracht bleiben, halten die beiden Seitenflügel nach Westen - dem Grundstück des Klägern gegenüber - folgende Abstände ein: nördlicher Seitenflügel teilweise 6,00 m, im übrigen 7,55 m; südlicher Seitenflügel teilweise 6,50 m, im übrigen 8,30 m (ursprünglicher Eintrag 8,25 m, Rotrevidierung des Landratsamtes). Die Abstände der beiden Seitenflügel nach Norden, Osten und Süden liegen zwischen 4,25 m und 8,30 m (ursprünglicher Eintrag 8,25 m; Rotrevidierung des Landratsamtes, soweit es den Abstand betrifft, den der südliche Seitenflügel auf eine Breite von 6,75 m zum östlich angrenzenden Nachbargrundstück einzuhalten hat).

8.

Der Bescheid enthält folgende Auflagen:

"c) Die Gebäudeteile, die zur Ost- und Westgrenze die vollen nach Art. 6 BayBO geforderten Abstandsflächen 'H' nicht einhalten, dürfen ja Grenzseite das Gebäudemaß von 16,0 m nicht überschreiten.

...

k) Entsprechend der Wandhöhenermittlung auf der Zeichnung vom Februar 1982 'Abstandsflächen und Höhenschnitte' ergibt sich für das südliche Gebäude eine Wandhöhe von 6,00 m + 1/3 6,90 = 8,30 m. ...

Die Grenzabstände zu den West- und Ostgrenzen müssen daher mindestens 8,30 m betragen. Die Hauslänge ist daher entsprechend zu reduzieren."

9.

Ein etwa 4 m breiter Ausläufer des Grundstücks des Klägers rahmt das Baugrundstück im Norden ein. Zwischen den Beteiligten ist strittig, ob der auf diesem Grundstücksteil liegende Weg "S.-Höhe" ein rechtswirksam dem öffentlichen Verkehr gewidmeter Weg ist. Südlich grenzt an das Baugrundstück das gleichfalls im Eigentum des Beigeladenen stehende Grundstück FlNr. 884/1 an.

10.

Das Verwaltungsgericht hat der nach erfolglosem Vorverfahren erhobenen Klage mit Urteil vom 21.2.1985 stattgegeben.

11.

Mit Ergänzungsbescheid vom 19.2.1985, berichtigt mit Bescheid vom 9.10.1985, hat das Landratsamt den angefochtenen Bescheid um die Auflage erweitert, die fünf Balkone an der Westweite des Mehrfamilienhauses so zu verringern, dass sie nicht mehr als 1,50 m vor die Außenwand vortreten.

12.

Der Beklagte und der Beigeladene haben gegen das Urteil vom 21.2.1985 jeweils Berufung eingelegt.

13.

Der Kläger hat sich diesen Berufungen angeschlossen und die Aufhebung auch der Ergänzungsbescheide vom 19.2./9.10.1985 beantragt.

Aus den Gründen:

14.

Die Berufungen des Beklagten und des Beigeladenen sowie die Anschlussberufung des Klägers sind zulässig. Die beiden Berufungen sind unbegründet. Die Anschlussberufung hat Erfolg. Der Bescheid des Landratsamtes vom 31.10.1983 i.d.F. des Ergänzungsbescheids vom 19.2.1985 und des Berichtigungsbescheids vom 9.10.1985 ist rechtswidrig und verletzt des Kläger dadurch in seinen Rechten.

15.

Das genehmigte Vorhaben widerspricht der anzuwendenden neuen Abstandsflächenregelung. Es hält mit seinen nach Westen ausgerichteten Außenwänden nicht durchgehend eine auf dem Baugrundstück liegende Abstandsfläche mit einer Tiefe von 1 H ein.

16.

Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Bayer. Bauordnung i.d.F. der Bek. vom 2.7.1982 (BayRS 2132-1-I) sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen baulichen Anlagen freizuhalten. Das genehmigte Vorhaben umfasst ausweislich der zugrundeliegenden Baupläne zwei aneinandergebaute Gebäude, nämlich den nördlichen Seitenflügel und den südlichen Seitenflügel mit dem Mittelbau (zum Gebäudebegriff siehe Art. 2 Abs. 2 BayBO). Die Abstandsflächen müssen soweit sie sich - wie hier - nicht auf Nachbargrundstücke erstrecken dürfen, auf dem Grundstück selbst liegen (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO). Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich nach der  Wandhöhe, sie wird senkrecht zur Wand gemessen (Art. 6 Abs. 3 Satz 1 BayBO). Die Wandhöhe der beiden Seitenflügel beträgt gemäß Art. 6 Abs. 3 Sätze 2 mit 6 BayBO, gemessen ab der festgelegten Geländeoberfläche, 8,45 m (bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut je 6 m, zuzüglich ein Drittel der Höhe der Giebelfläche im Bereich des Daches von je 7,35 m). Die Wandhöhe des Mittelbaues beläuft sich auf 7,83 m. Gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO betragen die Tiefen der dem Grundstück des Klägers gegenüber einzuhaltenden Abstandsflächen somit 8,45 m für die beiden Seitenflügel und 7,83 m für den Mittelbau.

17.

Dieser Berechnung sind die Einzelmaßangaben im "Schnitt Wohnhaus II" zugrundegelegt (siehe hierzu §3 Abs. 2 Nr. 3 der Verordnung über die bauaufsichtlichen Verfahren vom 2.7.1982, BayRS 2132-1-2-I). Die abweichenden pauschalen Angaben "6,90" für die Höhe der Giebelflächen der beiden Seitenflügel in der Bauzeichnung "Abstandsflächen und Höhenschnitte" sind nicht maßgeblich. Der Zweck dieser Bauvorlage erschöpft sich darin, die Höhenlage des natürlichen und des künftigen Geländes auf dem Baugrundstück sowie die Abstände zwischen den gewählten Messpunkten festzulegen. Die vom Landratsamt aufgenommene Auflage k), wonach die Grenzabstände zu den West- und Ostgrenzen mindestens 8,30 m betragen müssen, nimmt zwar ausdrücklich auf diese Bauzeichnung Bezug. Damit ist jedoch lediglich nachverfolgbar, aus welchen Gründen das Landratsamt für den südlichen Seitenflügel irrtümlich eine lediglich 8,30 m tiefe Abstandsfläche angeordnet hat. Die Höhenentwicklung des Vorhabens ist nicht zugleich entsprechend festgeschrieben. Hierzu hatte aus der Sicht des Landratsamtes, das sich über die abweichenden Maßnahmen im "Schnitt Wohnhaus II" offenbar nicht bewusst war, auch kein Anlass bestanden. Jedenfalls aber ist mangels Rotrevidierung im "Schnitt Wohnhaus II" nicht eindeutig klargestellt, dass sich die beiden Seitenflügel lediglich 12,90 m (und nicht 13,35m) über Gelände erheben dürfen. Ein Nachbar kann die unzureichende inhaltliche Bestimmtheit einer Baugenehmigung, sofern dieser Mangel nicht ohnehin zur (teilweisen oder gänzlichen) Nichtigkeit der Regelung führt, jedenfalls insoweit geltend machen, als durch die erteilte Baugenehmigung nicht sichergestellt ist, dass das genehmigte Vorhaben allen dem Nachbarschutz dienenden Vorschriften entspricht.

18.

Die beiden Seitenflügel halten das geforderte Tiefenmaß nicht ein. Erfolglos berufen sich der Beklagte und der Beigeladene darauf, eine 1 H tiefe Abstandsfläche brauche hier gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO nicht durchgehend eingehalten zu werden. Nach dieser Bestimmung genügt vor zwei Außenwänden von nicht mehr als je 16 m Länge als Tiefe der Abstandsfläche die Hälfte der nach Abs. 4 erforderlichen Tiefe, mindestens jedoch 3 m; dies gilt nicht in Kerngebieten und Gewerbe- und Industriegebieten. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm sind nicht erfüllt.

19.

Das genehmigte Vorhaben weist mehr als zwei Außenwände auf, vor denen weniger als 1 H tiefe Abstandsflächen liegen. Dies gilt jedenfalls für die nach Osten, nach Süden und nach Westen ausgerichteten Außenwände des Vorhabens. Die nördliche Außenwand des nördlichen Seitenflügels bleibt außer Betracht, weil dieser Wand ein Ausläufer des Grundstücks des Klägers gegenüberliegt, der möglicherweise - dies hat in der mündlichen Verhandlung nicht geklärt werden können - von einem rechtswirksam dem öffentlichen Verkehr gewidmeten Weg ("S.-Höhe") in Anspruch genommen wird (siehe hierzu Art. 6 Abs. 5 Satz 2 letzter Halbsatz und Abs. 8 BayBO). Hingegen ist die südliche Außenwand des südlichen Seitenflügels ungeachtet dessen einzubeziehen, dass dieser Außenwand ein Grundstück des Beigeladenen gegenüberliegt (siehe in diesem Zusammenhang Art. 7 Abs. 6 BayBO). Ein Bauherr kann abstandsflächenrechtlich zwar frei wählen, an welche Nachbargrundstücke er auf seinem (Buch-) Grundstück zwei Außenwände von nicht mehr als  je 16 m Länge bis auf die Hälfte der nach Art. 6 Abs. 4 BayBO erforderlichen Tiefe heranrückt. Dieses Wahlrecht besteht jedoch nur im Rahmen des Art. 6 Abs. 5 BayBO. Es entfällt insbesondere, wenn für dasselbe Gebäude mehr als zwei als zwei derartige Außenwände vorgesehen sind. In diesem Fall beurteilt sich das Vorhaben ausschließlich nach Art. 6 Abs. 4 BayBO. Eine Ausnahme gemäß Art. 7 Abs. 2 BayBO ist nicht erteilt. Vorsorglich ist klarzustellen, dass nach dieser Vorschrift zwar Ausnahmen nicht nur von Art. 6 Abs. 4, sondern auch von Art. 6 Abs. 5 BayBO gestattet werden können. Eine derartige Ausnahme bezieht sich jedoch auf die Nichteinhaltung der "geforderten Abstandsflächen". Eine Ausnahme von Art. 6 Abs. 5 BayBO zielt also auf eine Unterschreitung des verkürzten Tiefenmaßes ab; die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 5 BayBO indes müssen auch in diesem Fall erfüllt sein. Anderenfalls kann nur eine Ausnahme von Art. 6 Abs. 4 BayBO gewährt werden.

20.

Das Vorhaben ist darüber hinaus auch dann nicht von Art. 6 Abs. 5 BayBO gedeckt, wenn lediglich die nach Westen, dem Grundstück des Klägers gegenüber ausgerichtete Gebäudefront berücksichtigt wird. Es kann dahingestellt bleiben, was im einzelnen unter "Außenwänden von nicht mehr als je 16 m Länge" im Sinne der genannten Bestimmung zu verstehen ist, insbesondere inwieweit gegliederte Außenwände sowohl im Hinblick auf den Begriff "Außenwand" als auch auf das gesetzlich begrenzte Längenmaß zulässig sind (siehe hierzu den Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 8.7.1985 Nr. 15 B 84 A.2534, BayVBl. 1985, 601, über den der Große Senat noch nicht entschieden hat). Unter jeder nur denkbaren Auslegung ist das Vorhaben auch insoweit nicht mit Art. 6 Abs. 5 BayBO vereinbar. Nach Art. 6 Abs. 5 Satz 3 BayBO sind aneinandergebaute Gebäude wie ein Gebäude zu behandeln. Hieraus folgt, dass gleichgerichtete Außenwände aneinandergebauter Gebäude wie eine Außenwand zu behandeln sind. Die Vorschrift will verhindern, dass auf einem (Buch-)Grundstück ein Gebäudekomplex entsteht, der vor einer Gebäudefront auf einer Länge von mehr als 16 m das verkürzte Tiefenmaß einhält (vgl. hierzu LT-Drs. 9/7854, Begründung zu § 1 Nr. 6). Mit diesem Gesetzeszweck lässt sich auch nicht vereinbaren, das 16-m-Privileg bei aneinandergebauten Gebäuden zweimal für dieselbe Gebäudefront zu beanspruchen. Hiervon ausgehend ist festzustellen: Werden die beiden Außenwände des nördlichen Seitenflügels sowie des südlichen Seitenflügels mit dem Mittelbau zusammengerechnet, wird eine Länge von 16 m weit überschritten (zusammen 32,41 m). Dies gilt auch dann, wenn lediglich die westlichen Giebelseiten der beiden Seitenflügel berücksichtigt werden, also der Mittelbau, der seinerseits 1 H einhält, außer Ansatz bleibt (zusammen 24,66 m).

21.

Die Auflage c) bringt das Vorhaben nicht in Übereinstimmung mit der unter Art. 6 Abs. 5 BayBO getroffenen Abstandsflächenregelung. Ihrem Wortlaut folgend scheint sie, soweit es die westliche Gebäudefront angeht, eine Verringerung der Breite der beiden Seitenflügel von zusammen 24,66 m auf zusammen 16 m zum Inhalt zu haben. Es kann dahingestellt bleiben, ob eine derart weitreichende Abweichung vom Bauantrag überhaupt als zulässige modifizierende Auflage verstanden werden könnte. Aus den Rotrevidierungen in den Grundrissen des Erd- und des Obergeschosses geht hervor, dass die Auflage lediglich für Teile der östlichen Gebäudefront gelten soll.

22.

Die vom Landratsamt zur Absicherung der angefochtenen Baugenehmigung nachträglich erlassenen beiden Bescheide beheben den Mangel nicht. Sie betreffen die Tiefe von Balkonen an der westlichen Gebäudefront, die bei der vorstehenden Prüfung ohnehin unberücksichtigt geblieben sind. Mithin erübrigt es sich, darauf einzugehen, ob es sich bei diesen Bauteilen um untergeordnete "Vorbauten" im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Satz 7 BayBO handelt.

23.

Der Kläger wird dadurch, dass die Außenwände der beiden aneinandergebauten Gebäude nach Westen, seinem Grundstück gegenüber, nicht durchgehend eine auf dem Baugrundstück liegende Abstandsfläche mit einer Tiefe von 1 H einhalten, in seinen Rechten verletzt. Art. 6 Abs. 4 BayBO dient (auch) dem Nachbarschutz.

24.

Subjektive Rechte in dem von § 113 Ab. 1 Satz 1 VwGO mit den Worten "in seinen Rechten" bezeichneten Sinn sind gegeben, wenn "der betreffende Rechtssatz nicht nur öffentlichen Interessen, sondern - zumindest auch - Individualinteressen zu dienen bestimmt ist" (BVerfGE 27, 297/307). Eine am Normzweck orientierte Auslegung unter Berücksichtigung des Aufbaus der Art. 6 und 7 sowie der Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers ergibt, dass nicht lediglich die unter Art. 6 Abs. 5 BayBO aufgenommene Regelung drittschützend ist. Die Vorschriften der neuen Bayer. Bauordnung über die Einhaltung von Abstandsflächen dienen vielmehr in ihrer Gesamtheit dem Schutz der Nachbarn (ebenso BayVGH vom 5.3.1984 Nr. 2 CS 84 A.162, BayVBl. 1984, 306; eine dahingehende Rechtsansicht liegt auch dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 27.7.1983 Nr. 15 CS 83 A.1485, BayVBl. 1983, 760 zugrunde; Koch/Molodovsky, BayBO, 1983, Art. 6 Erl. 1,4; Schwarzer, BayBO, 1984, Anm. 11 zu Art. 6; Simon, BayBO, 1985, RdNR. 53 zu Art. 6; a.M. Allesch, Der Umfang des Nachbarschutzes der Abstandsflächenvorschriften der BayBO 1982, BayVBl. 1983, 738; Metzger, BayBO, 1983, Art. 73 Erl. 4.1). Die Regelung, dass vor Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von baulichen Anlagen freizuhalten sind, dient der ausreichenden Versorgung von Räumen mit Tageslicht. Daneben sichert sie durch Schaffung bzw. Wahrung von Freiflächen unter anderem das für gesunde Wohnverhältnisse erforderliche Kleinklima, eine ausreichende Durchlüftung der Freiräume und ein verträgliches Wohnklima (siehe LT-Drs. 9/7854, Begründung zu § 1 Nr. 6). Sie soll damit eine ausreichende Belüftung, Belichtung und Besonnung sowie den Brandschutz auch der Nachbargrundstücke gewährleisten. Dies gilt gleichermaßen für die in Art. 6 Abs. 4 wie für die in Abs. 5 BayBO festgelegten Tiefenmaße. Zutreffend führt der Beklagte aus, dass das in Art. 6 Abs. 4 BayBO festgelegte Maß (je nach Art des Baugebietes 1 H, 0,5 H und 0,25 H, mindestens 3 m) nicht in einen nachbarschützenden und einen lediglich den Bauherren und dem Interesse der Allgemeinheit dienenden Teil aufgespalten werden kann. Entsprechendes gilt hinsichtlich Art. 6 Abs. 5 BayBO. Diese Vorschrift enthält im Verhältnis zum Absatz 4 keinen Ausnahmetatbestand (siehe hierzu wiederum Art. 7 Abs. 2 BayBO), sondern ist Teil einer vom Gesetzgeber einheitlich getroffenen Abstandsflächenregelung. Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur früheren Abstandsflächenregelung lässt sich auf die nunmehr geltende Rechtslage nicht übertragen. Der Verwaltungsgerichtshof hatte in seinem Urteil vom 17.10.1969 (BayVBl. 1970, 447) entschieden, dass Art. 6 Abs. 3 Nr. 2 der Bayer. Bauordnung in der ab 1.10.1969 geltenden Fassung (GVBl. 1969, 263) über die Einhaltung vergrößerter Abstandsflächen vor notwendigen Fenstern von Aufenthaltsräumen im Unterschied zu der unter Art. 6 Abs. 3 Nr. 1 BayBO 1969 getroffenen Regelung (sog. kleine Abstandsfläche) nicht auch dem Nachbarschutz dient. Er hatte diese seine Rechtsansicht jedoch maßgeblich mit der geänderten Fassung des Gesetzes ("Um die Aufenthaltsräume [Art. 58] ausreichend zu belichten, müssen vor notwendigen Fenstern die Abstandsflächen mindestens so tief sein wie ...") begründet. Im Unterschied zur vormaligen Rechtslage enthält das neue Abstandsflächenrecht jedoch kein Tatbestandsmerkmal, das, soweit es die Reichweite des Nachbarschutzes angeht, eine Unterscheidung zwischen Art. 6 Abs. 4 BayBO einerseits und Art. 6 Abs. 5 BayBO andererseits rechtfertigen könnte. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Beklagten, bei Außenwänden von nicht mehr als 16 m Länge sei nur das Tiefenmaß nach Art. 6 Abs. 5 BayBO nachbarschützend unabhängig davon, ob der Bauherr die Hälfte der nach Abs. 4 erforderlichen Tiefe vor anderen Außenwänden in Anspruch nehme oder nach Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO nicht in Anspruch nehmen könne. Sofern die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 5 BayBO nicht erfüllt sind, beurteilt sich ein Vorhaben abstandsflächenrechtlich nach Art. 6 Abs. 4 BayBO, der jedoch auch nach Ansicht des Beklagten Nachbarschutz vermittelt. Der Einwand, der Bauherr dürfe nicht das Ausmaß des Nachbarschutzes bestimmen können, geht fehl. Wie bereits ausgeführt, besteht ein Wahlrecht nur im Rahmen des Gesetzes. Zum anderen hat es ein Nachbar hinzunehmen, dass ein Bauherr von der ihm eingeräumten gesetzlichen Erleichterung Gebrauch macht und frei wählt, gegenüber welchem Nachbargrundstück er lediglich das Tiefenmaß nach Art. 6 Abs. 5 BayBO einhalten will. Dem Schutzbedürfnis derer, denen antragsgemäß Baugenehmigungen erteilt werden, ist mit dieser Auslegung genügt. Mit der Anreicherung des Eigentums des Nachbarn, die in der drittschützenden Wirkung des Art. 6 BayBO liegt, geht einher, dass der Bauherr sich nach wie vor einem sicher abgrenzbaren Kreis von Berechtigten gegenübersieht und sein Risiko, wer eine ihm erteilte Baugenehmigung mit Aussicht auf Erfolg anfechten kann, für ihn übersehbar bleibt. Die Absicht des Gesetzgebers, objektivrechtlich ein flächensparendes Bauen zu ermöglichen, wird dadurch, dass Art. 6 BayBO Dritten einen Anspruch auf Einhaltung der neuen Abstandsflächenregelung einräumt, in der Sache nicht berührt.

25.

Der Kläger kann sich auf die Nichteinhaltung des Art. 6 Abs. 4 BayBO berufen, weil die Abstandsflächen seinem Grundstück gegenüber (westlicher Grundstücksteil) nicht gewahrt sind.